Ein „realistisches Idealbild“ mit 30-Sekunden-Funktion

Die Klassik Stiftung Weimar erarbeitet ein neues Leitbild

Die Klassik Stiftung Weimar hat die Corona-Zeit unter anderem dafür genutzt, gemeinsam mit allen Mitarbeitenden und begleitet von der Agentur Metrum ein neues Leitbild zu erarbeiten. Der halbjährige Prozess, den die seit 2019 tätige Präsidentin Ulrike Lorenz initiierte, mündete in einem bewusst kurz gefassten Papier mit der Überschrift „Vergangenheit erforschen, Gegenwart gestalten, Zukunft entwerfen“. Cornelie Kunkat fragt nach.

 

Cornelie Kunkat: Frau Lorenz, was war der Anstoß für die Erarbeitung eines neuen Leitbildes?

Ulrike Lorenz: Das Leitbild ist in der Dynamik eines fundamentalen Transformationsprozesses ein wichtiger Schritt – ein Meilenstein, der ganz am Anfang stehen muss. Nach einer längeren Entwicklungsphase, in der 2004 erstmals ein Leitbild entwickelt wurde, stand mit dem Wechsel in der Präsidentschaft naturgemäß eine strategische Neuorientierung an. Die Klassik Stiftung Weimar – eine der komplexesten Gedächtnis-, Kultur- und Forschungsinstitutionen der Bundesrepublik – muss sich stärker auf die Gegenwart und an den Existenzfragen der Gesellschaft orientieren. Das ist die große Leitlinie. Die Vergangenheit bleibt für uns ein wesentliches Fundament; wir vermitteln und bewahren Geschichte in hochkonzentrierter Form. Aber jetzt geht es vor allem darum, das Vermitteln und Bewahren auf gesellschaftliche Fragestellungen, auf Gegenwart und Zukunft auszurichten. Dieser Perspektivwechsel war mit meinem Amtsantritt als Präsidentin Mitte 2019 verbunden. Im Direktorium der Stiftung definierten wir daraufhin sechs Handlungsfelder, Schwerpunkte der Erneuerung. Eines beinhaltete den Leitbildprozess und den sich anschließenden Markenprozess, letzteren haben wir gerade begonnen. Wichtig war uns, mit der Erarbeitung des Leitbildes einen wirklichen Teamprozess Bottom-up zu verbinden und damit die Stiftungsstrategie in allen Verästelungen einer immerhin 430 Köpfe umfassenden Belegschaft – strukturiert in fünf Direktionen und drei Stabsreferaten mit sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Alltagsaufgaben – ankommen zu lassen.

 

Wie kann man sich die Einbindung der vielen Mitarbeitenden über ein halbes Jahr lang vorstellen?

Wir hatten uns vorgenommen, den Prozess mithilfe eines externen Partners konzentriert anzugehen. Die Agentur Metrum, die Erfahrung und hohe Professionalität in der Erarbeitung von strategischen Konzepten für große Kulturorganisationen mitbringt, hat diesen Prozess begleitet. Die von ihr vorgeschlagene systematische Beteiligungsstruktur hat es uns ermöglicht, innerhalb eines halben Jahres zum Punkt zu kommen und das Leitbild dem Stiftungsrat am Jahresende zur Beschlussfassung vorzulegen.

Der Prozess umfasste fünf Phasen und begann mit einer internen Stoffsammlung, den die Agentur auf der Grundlage eines eigens entwickelten Fragebogens mittels Workshops in den Direktionen und Stabsreferaten organisierte. An diesen Workshops nahmen Multiplikatoren aus allen Arbeitsfeldern der Stiftung teil, die die Direktionen selbst bestimmten. Hier wurden zunächst Ziele und Inhalte reflektiert: Wie wollen wir das Leitbild anlegen? Welche Form und Dimension streben wir an? Welche essenziellen Merkmale, Prinzipien und Werte sollen aufgenommen werden? Dann kamen die Führungskräfte auf der mittleren Ebene, also Abteilungs- und Teamleiter, zum Zug. Sie führten in ihren Teams jeweils interne Workshops durch, in denen das zuvor Reflektierte weitergetragen wurde. Somit konnte sich prinzipiell jede Kollegin, jeder Kollege persönlich beteiligen.

Parallel gab es zusätzlich eine externe Stoffsammlung, durch Interviews mit Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik: Stakeholder, Zuwendungsgeber, Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats, Stiftungsräte wie Prinz Michael von Sachsen-Weimar-Eisenach oder Kollegen wie der Präsident der Musikhochschule Weimar, Christoph Stölzl. Menschen also, die uns teils professionell, teils institutionell verbunden sind und die Klassik Stiftung mit einem hohen Reflexionsgrad beobachten.

 

Was folgte auf diese komplex angelegte Stoffsammlung?

In der nächsten Phase entstanden in enger Interaktion zwischen Agentur und einem stiftungsinternen Redaktionsteam unter Leitung des Pressesprechers Franz Löbling ein erster und zweiter Textentwurf. Ziel war eine Seite Text, nicht mehr – darauf hatten wir uns früh geeinigt. Zudem sollte es eine sogenannte 30-Sekunden-Funktion geben, die gewährleistet, dass die Grundaussagen des Leitbildes mit einem Blick erfasst werden können. Im Redaktionsteam engagierten sich Persönlichkeiten mit hoher Sprachkompetenz aus verschiedenen Direktionen, die beeindruckende, wertvolle Diskussionen geführt haben, an denen ich im Wechsel mit dem Vizepräsidenten teilnahm.

Die zweite Fassung wurde dann in einer dritten Phase auf die mittlere Führungsebene zurückgespielt. Innerhalb von zwei Wochen haben die Abteilungsleitungen mit ihren Teams wiederum in Workshops den Entwurf auseinandergenommen und kritisch kommentiert. Gut 80 Prozent der Abteilungen haben sich an diesem Prozess aktiv eingebracht; es gab sehr viele Rückmeldungen, die vom Redaktionsteam in der nächsten Phase sorgfältig zu einer dritten Fassung verarbeitet wurden. Wichtig ist hervorzuheben, dass es jederzeit für alle Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit gab, sich direkt beim Projektleiter zu melden.

In dieser vierten Phase wurde das Leitbild bis zur textlichen Endfassung geschärft und ausgefeilt. Als Phase fünf folgten die Präsentationen in den Gremien der Stiftung. Es begann Ende September mit dem Direktorium, das sich inhaltlich einschaltete und einen letzten Feinschliff vornahm. Franz Löbling stellte diese Finalfassung und einen Rückblick auf den gesamten Prozess im Personalrat vor sowie in einer digitalen stiftungsweiten Konferenz allen Mitarbeitenden. Danach wurde das Leitbild im wissenschaftlichen Beirat, in der Referenten-AG und im Stiftungsrat der Klassik Stiftung diskutiert, bevor es im November vom Stiftungsrat verabschiedet wurde.

Für alle wurde deutlich, dass wir einen wirklich konzentrierten, systematischen Prozess von unten nach oben geschafft hatten. Durch die Workshops und die Möglichkeit einer persönlichen Interaktion mit dem Redaktionsteam konnten die Mitarbeitenden tatsächlich in diesen Prozess involviert werden.

Wie hängen der von Ihnen angestoßene Kurswechsel und die Leitbildentwicklung in der praktischen Stiftungsarbeit nun zusammen?

Der beschriebene Prozess hat dazu geführt, dass der Kurswechsel der Stiftungsleitung im Team reflektiert und im Wesentlichen auch angenommen wurde. Durch ein Leitbild setzen sich abstrakte Ziele ja erst im Selbstverständnis und Arbeitsalltag einer Organisation tatsächlich um. Das heißt, die fünf Kapitel unseres Leitbildes sind konkreter Ausdruck der neuen Ausrichtung der Klassik Stiftung: „Wir vermitteln und bewahren Weltkulturerbe in Weimar. Wir übernehmen Verantwortung für unsere Geschichte. Wir wirken in der Gesellschaft. Wir forschen und bilden. Wir lernen und entwickeln uns.“ Und deswegen ist auch die Wir-Form so wichtig: Der Perspektivwechsel kommt bei allen an. Erstmals wird eine Verantwortung formuliert, die sich in der täglichen Arbeit konkretisiert: „Wir übernehmen Verantwortung für unsere Geschichte. Wir wirken in der Gesellschaft.“

 

Gab es bei den genannten Kapiteln Unterschiede in der Akzeptanz?

Ja natürlich. Hoch kontrovers diskutiert wurde, dass Vermittlung vor Bewahrung steht. Immerhin geht es um das Weltkulturerbe „Klassisches Weimar“ und Bauhaus! Die Vermittlung hat sich argumentativ schlussendlich durchgesetzt, wohlwissend, dass zunächst etwas bewahrt werden muss, um es dann auch vermitteln zu können. Aber es war eben ein ganz wesentlicher Impuls aus dem Team heraus, sich darüber zu verständigen, dass all das, was wir nicht an die Menschen außerhalb der Stiftung vermitteln können, einfach nicht stattfindet. Also wurde im Prozess auch immer klarer und logischer, dass die Klassik Stiftung sich öffnen muss, um ihrer Verantwortung für die Zukunft unserer Herkunft und die Herkunft unserer Zukunft auch wirklich gerecht zu werden.

 

Das ist interessant. Weil ich tatsächlich darüber gestolpert bin, dass das Vermitteln vor dem Bewahren genannt ist. Gut zu wissen, warum es bewusst so formuliert wurde.

Daran sehen Sie auch, dass das Leitbild ein „realistisches Idealbild“ beschreibt, eine Soll-Vorstellung, die wir erreichen wollen und können – kein Wolkenkuckucksheim, sondern das Fundament für eine gemeinsame Weiterentwicklung. Für mich als Präsidentin ist es tatsächlich vorbildhaft, dass wir in der Lage waren, unserer Wissensorganisation ein solches Leitbild zu geben.

 

Was sind weitere wichtige Erkenntnisse aus diesem Prozess?

Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass wir in unseren vielen Mitarbeitenden, die auf den unterschiedlichsten Ebenen arbeiten, ob als Gärtner oder Ausstellungskuratorin, als Baudenkmalpflegerin oder Editionsphilologe, ein Riesen-Wissenspotenzial haben, das es mit interaktiven Partizipationsprozessen zu aktivieren gilt. Diese Ressourcen wollen wir zukünftig intensiver einbinden und nutzen.

 

Würden Sie auch anderen Institutionen raten, diesen Weg zu gehen?

Unbedingt! Ich halte ein Leitbild, zumal bei komplexen Institutionen, für absolut unverzichtbar. Denn es ist ein Grundsatzpapier zum Selbstverständnis, zu Grundprinzipien und Werten einer Institution, das eine kontinuierliche Entwicklung überhaupt erst möglich macht. Wir lernen aber auch, dass wir weiterhin in Bewegung bleiben müssen. Ein Leitbild darf nicht in der Schublade verschwinden, sondern muss im Alltag gelebt werden. Deshalb ist uns jetzt ein Vertiefungsprozess wichtig, um konkretere Leitlinien der Zusammenarbeit und Kommunikation zu entwickeln.

 

Und welche Tipps würden Sie anderen Institutionen mit auf einen solchen Weg geben?

Tipps vielleicht in zwei Richtungen: Tatsächlich empfand ich es als überaus konstruktiv, diesen Prozess nicht über Jahre hinzuziehen, sondern als ein Projekt mit konkretem Anfang und Ende zu definieren. Zweitens sollte man sich für Strukturierung und Begleitung eines solchen Projekts maßgeschneiderte externe Unterstützung suchen.

 

Sie haben auch Leitbild-Botschafter. Was ist deren Funktion und wer verbirgt sich dahinter?

Gegen Ende des Arbeitsprozesses haben wir gemerkt, dass wir Menschen brauchen, die im Arbeitsalltag weiterhin als Botschafter tätig bleiben. Dies sind vor allem Mitglieder des Redaktionsteams. Sie organisieren eine Leitbild-Sprechstunde und sind bei Unklarheiten jederzeit ansprechbar.

 

Die Botschafter agieren also eher in die Stiftung hinein und nicht nach außen?

Ja. Große Teams müssen immer wieder motiviert werden, das, was einmal angestoßen und gemeinsam erarbeitet wurde, dauerhaft ernst zu nehmen. Darüber hinaus hatten wir aber auch die Überlegung, externe Botschafter anzusprechen und uns für einen Erfahrungsaustausch im Kulturbereich anzubieten. Das Beunruhigungspotenzial einer Beobachtung von außen ist wichtig für Entwicklung. Dabei ist natürlich auch ein Leitbild nicht in Stein gemeißelt. In drei, vier Jahren werden wir uns noch mal darüber beugen und fragen: „Stimmt es noch in einer sich verändernden Welt?“

 

Spüren Sie einen Motivationsschub unter den Mitarbeitenden nach der Erarbeitung des Leitbildes?

Das würde ich tatsächlich sagen. Der Teamprozess hat dazu beigetragen, dass sich unsere Führungskräfte ganz anders untereinander wahrgenommen und miteinander um ein Ergebnis gerungen haben. Die Stiftung begreift sich immer stärker als Einheit – als ein lebendiger Organismus, der mehr ist als seine Einzelglieder. Insofern hat der Leitbildprozess auch etwas zur positiven Stimmung und Motivation innerhalb der Klassik Stiftung Weimar beigetragen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

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Ulrike Lorenz ist Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Cornelie Kunkat ist Referentin für Frauen in Kultur und Medien beim Deutschen Kulturrat.
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