Der Sturz der wahren Monumente

Von Denkmalsturz und Ideengeschichte

Warum bin ich auf diese Idee nicht selbst gekommen? Den eigenen Artikel mit einem Warnhinweis anfangen lassen. Wie Sonja Zekri es in der Süddeutschen Zeitung vormacht. Achtung: „Dieser Text ist nicht neutral“. Kann Zuspitzungen enthalten, oder sogar Polemik. Großartig! Ein solcher Warnhinweis klärt vieles. Man ist seiner intellektuellen Compliancepflicht nachgekommen, hat Verantwortung gezeigt, den Leser vor möglichen Nebenwirkungen gewarnt. Bitte nur morgens lesen und nicht auf nüchternem Magen!

 

Das Verfahren scheint Schule zu machen, wenn man die Vorschläge im jüngsten Denkmalstreit nimmt. Fragwürdige Zeitgenossen, auch gänzlich unbekannte, sollen jetzt mit einer Warntafel versehen werden. Achtung: Rassist! Ich weiß zwar nicht, warum ein Rassist weniger schlimm sein soll, wenn man draufschreibt, dass er einer ist. Aber offenbar will man das bekannte Zeichen setzen beim „erinnerungskulturellen Kassensturz“, wie das die Süddeutsche Zeitung nennt.

 

Der erinnerungskulturelle Kassensturz ist gar nicht so einfach, und er wird umso schwieriger, je prominenter die Namen sind, um die es geht. Karl Marx z. B., der jetzt an der Reihe ist. Seine rassistischen Ausfälle gegen den Erzrivalen Lassalle sind sattsam bekannt. Aber was machen wir mit den Monumenten, in Trier, Chemnitz, Leipzig oder Berlin? Graben wir sie wieder ein? In die märkische Heide? Muss man die Geschichte der Arbeiterbewegung deswegen gar umschreiben? Womöglich aus rein proletarischer Sicht? Weil man auch die alte hermeneutische Regel gerade auf den Kopf zu stellen versucht, wonach man von sich selbst doch am wenigsten weiß.

 

Mit dem Erkenntniszugewinn ist das so eine Sache. Wir lesen jetzt wieder Namen, die keiner mehr kennt, jedenfalls nicht außerhalb der englischen Hafenstadt Bristol. Den Namen von Edward Colston z. B., der sein schmutziges Geld mit dem Sklavenhandel verdiente. Man hat das all die Jahre gewusst, aber schamhaft verschwiegen. Von diesem Colston habe ich zugegebenermaßen erst erfahren, als er kopfüber ins Wasser des Hafenbeckens gestürzt wurde. Ob dasselbe Schicksal auch Winston Churchill droht? Zum Glück gibt es auf dem Londoner Westminster Square kein solches Gewässer. Churchill hat sein Land zwar vor den Nazis bewahrt, aber jetzt holt ihn seine ganze Biografie ein. Man hat sein Denkmal inzwischen verhüllt. Man will das Land wohl vor dem eigenen Sohn schützen. Und Mahatma Gandhi? Selbst den hätte es um ein Haar noch erwischt; was einen Kommentator besorgt fragen lässt, wie lang die Proskriptionsliste noch werden soll, auf der solche Namen stehen.

 

Ziemlich lang vermutlich. Immanuel Kant steht jedenfalls längst schon darauf. Über ihn wird besonders heftig debattiert. Ausgerechnet dieser Urahn der Aufklärung, unser Alm-Öhi sozusagen des Glaubens an die reine Vernunft. Ich kann mich noch gut an einen Artikel der Gräfin Dönhoff erinnern, als sie über die Rückkehr des Kant-Denkmals nach Königsberg schrieb. Da war Rührung in fast jeder Zeile. Das ist kaum mal drei Jahrzehnte her. Und heute wollen wir dieses Denkmal wieder stürzen?

 

Natürlich steckt in der Kantischen Anthropologie so manches Zeugs, was uns Heutige nur mit dem Kopf schütteln lässt. Eckhard Henscheid hat sich darüber schon vor Jahren lustig gemacht. Doch über Kant darf man wohl nicht einmal mehr schmunzeln, seit er als Pate einer „populistischen Ausschließungsrhetorik“ gilt. Halb besorgt, halb ironisch fragte auch die FAZ, wie rassistisch dieser kategorische Imperativ sei? Sehr, meint die amerikanische Philosophin Myisha Cherry, es handele sich bei Kant um eine frühe Form des „Otherings“, das bestimmte Gruppen vom vernünftigen Menschsein ausschließen wolle.

 

Der Fall Kant hat die Feuilletons tief in die staubigen Archive getrieben. Wir lesen heute mit Entzücken vom angesehenen Königsberger Stadtphysikus Metzger, der Kant auf akademischer Bühne widersprach. Er hat auch Bücher über die Lustseuche geschrieben. Ideengeschichte ist viel spannender, als man glaubt. Es lohnt sich aber durchaus, den historischen Ort aufzusuchen, an dem der moderne Rassismus entstand; als die alte Ordnung des Denkens zerbrach, weil sie dem neuen Wissensdruck nicht mehr standhalten konnte. Und eine neue entstand, die auch neue Kategorien brauchte.

 

Vielleicht wäre man dort Anton Wilhelm Amo begegnet, wie er nach seiner evangelischen Taufe hieß; der als Sklavenkind vom Golf von Guinea an den Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel kam, in Helmstedt studierte und in Halle zum hochangesehenen Philosophieprofessor wurde. Damals waren solche Karrieren noch möglich; sie erscheinen uns heute wie das Aufleuchten eines großen Menschheitsprojekts. Doch dann hat sich eine sehr lange Nacht darüber zu legen begonnen.

 

Man muss sich tatsächlich fragen, warum Kant „seinen Universalismus nicht zu Ende dachte“. Aber was die Kant-Forscher als Antwort vorschlagen, wirkt eher wie eine Evaluierungskommission. Man müsse jetzt sehr genau prüfen, ob „Kants Fehlurteile sich auf seine Ethik, Rechtsphilosophie, politische Theorie und andere Teile seines Werks ausgewirkt haben“, schreibt der Vorsitzende der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Marcus Willaschek. Und dann kommt die Zertifizierungsplakette.

 

Geht es um die Revision von Texten, oder geht es um historisches Unrecht und erlittene Diskriminierung? Die Wunden sind doch alle noch offen. Die Proteste zeigen das klar. Am Ende steht aber die Menschheitsidee auf dem Spiel, die der europäischen Aufklärung. Gustav Seibt hat das in bemerkenswerter Klarheit gesehen und vom unvollendeten Projekt des Westens gesprochen. Das Übergreifen der amerikanischen Proteste auf Europa habe für einen Moment wieder die Einheit dieses Westens in den Blick gebracht. Die liberale Moderne, möchte man schön dialektisch sagen, stellt sich ihren Versäumnissen und erlöst sich dadurch von sich selbst.

Aber das ist der alte Blick. Der Blick vom weißen, westlichen Sockel herunter. Der postkoloniale Diskurs zeigt sich daran immer weniger interessiert; er argumentiert auch nicht mehr universalistisch, er ist sich seiner selbst bewusst geworden. Die Herrschaftsverhältnisse, die auf der Welt entstanden sind, lassen sich nicht mehr trennen von diesem „weißen“ Projekt. Doch der Nachahmungsimperativ, wie Ivan Krastev ihn nannte, der so lange bestimmte, ist inzwischen perdu. Die Ordnung der Dinge kommt künftig ohne Himmelsrichtungen aus. Ein neues Kapitel unserer postmodernen Welt wird gerade aufgeschlagen. Die Völker ohne Geschichte, wie man sie lange nannte, schreiben sich darin ein. Der Westen ist, was er ist, schreibt der algerische Schriftsteller Kamel Daoud in der Zeitung Le Monde: „unvollkommen und verbesserungswürdig“. Es gehe nicht darum, ihn zu zerstören. Denn die, „die davon träumen, sind die, denen es nicht gelungen ist, einen besseren Traum zu finden als den der barbarischen Revanche“. Hier stürzen die wahren Monumente. Die alten Figuren kann man getrost auf ihren Sockeln belassen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
Vorheriger ArtikelKlima der Angepasstheit
Nächster ArtikelUnkultur der Gewalt