Der Krieg und die Kultur

Die Rolle der Künste in dieser Phase des Epochenbruchs

Was macht der Krieg in der Ukraine mit der Kunst? Oder präziser gefragt: Was macht er mit der Freiheit? Kunst ist „eine Tochter der Freiheit“, wie Friedrich Schiller formulierte. Sie ist Lebenselixier einer freien Gesellschaft, sichert ihr Überlebenskraft – aber sie braucht den Atem einer freien, weltoffenen Gesellschaft. Im Krieg leidet sie besonders. Russland hat jahrzehntelang die Erfahrung einer kommunistischen Gewaltherrschaft machen müssen. Unter Perestroika und Glasnost um 1990 konnte das Land wieder frei atmen. Es blühte auf – demokratisch und auch kulturell. Nach und nach wurden allerdings Kunst und Freiheit immer stärker unterdrückt. Kunst ist den Despoten eine Gefahr. Sie ist im weitesten Sinne politisch. Sie unterwirft sich nicht. Kunst ist ein gärendes, oft anstößiges Ferment, das die Gesellschaft vor Stillstand bewahrt, ihr die Überlebenskraft sichert, aber auch selbst vor den Versuchungen zur Unfreiheit geschützt werden muss. Sie ist eine empfindliche Pflanze.

 

Wer für die Freiheit kämpft, der kämpft auch für die Freiheit von Kunst und Kultur. Das tun die Ukrainer mit Mut und Opferbereitschaft. Sie wollen nicht unter das Joch des Putin-Regimes. Sie wollen ihre ukrainische Identität, die sich in Jahrhunderten der wechselvollen Beziehung zu den Russen herausgebildet hat, bewahren. Manche bei uns wollen ihrer Selbstverteidigung, ihrer Notwehr Grenzen setzen. Was ist das für eine bevormundende Arroganz, den Ukrainern jetzt vorschreiben zu wollen, wie viel Leid sie sich noch zumuten wollen und welchen Frieden sie mit welchen Waffen anstreben sollen.

 

Wir müssen uns absolut darüber im Klaren sein. Das ist keine regionale Auseinandersetzung. Das ist ein Anschlag auf die seit 1945 mit der „Charta der Vereinten Nationen“ begründeten Friedensordnung. Nach dem von den Nazis entfesselten Weltenbrand wurden zum ersten Mal Friedenssicherung und Schutz der Menschenrechte in einen untrennbaren Zusammenhang gebracht. Die Menschheit sollte vor „der Geißel des Krieges“ künftig bewahrt werden. Das ist im Lauf der Jahrzehnte oft nicht gelungen. Aber der Überfall auf die Ukraine ist ein Tabubruch bisher nicht gekannter Dimension. Er bringt dieses Wertesystem ins Wanken. Die große Mehrheit der Staaten verurteilt den Krieg, aber eine Minderheit, angeführt von der Weltmacht China, hält sich zurück. Gefahren kommen auch aus dem Inneren Europas. In einigen Ländern, so in Frankreich, und auch in Italien wachsen autoritäre, europafeindliche Tendenzen.

 

Will man den Aggressor verstehen, so muss man seinen Motiven nachspüren. Das ist natürlich der Machterhalt einer kleinen Clique, die sich Russland zur Beute gemacht hat. Es ist auch das Ziel, den Westen, Europa zu destabilisieren. Europa soll „neu geordnet“ werden. Das ist total misslungen. Europa rückt näher zusammen.

 

Der Beitrittsantrag Finnlands zur NATO beweist es. Aber Putin hat mehr im Sinn. Eine Idee soll verwirklicht werden, eine Mission, ein historisches Konzept. Aus dem Putinismus ist eine Ideologie geworden. Das historische Russland soll gerettet werden gegen den dekadenten, gottlosen Westen. Es ist eine imperiale Idee, in der die Ukraine keinen Platz hat. Wir alle wissen auch, dass die Behauptung, Putin müsse Russland vor den Nazis schützen wie seinerzeit Stalin Russland vor den deutschen Nazis, eine Lüge ist. Eine perfide Lüge gegenüber einem Volk, das selbst unter den Nazis gelitten hat wie die anderen Osteuropäer und auch die Menschen in Russland. Mit einem, der glaubt, vom Schicksal auserwählt zu sein, das historische Erbe Russlands zu retten, ist eine dauerhafte Friedensperspektive schwer vorstellbar. Er wird sein Ziel nicht aufgeben.

 

Längst ist die kulturelle Freiheit in Russland unter die Räder gekommen. Mutige Vertreter der Kulturszene äußern sich noch öffentlich – die meisten nur noch anonym. Viele verlassen Russland und Belarus. Beide Länder verlieren Scharen von talentierten Menschen, sie sollten hier unbürokratisch Aufnahme finden. Andere können oder wollen nicht mehr fliehen. Dazu gehört die bewundernswerte Maria Kolesnikowa. Sie studierte in Stuttgart Musik und war dabei, mit dem Mäzen Viktor Barbariko ein Kulturzentrum in Minsk aufzubauen. Jetzt erleiden beide eine langjährige Lagerhaft.

 

In unserem Lande ist eine merkwürdige Diskussion im Gange. Manche wollen von russischen Künstlern Erklärungen gegen den Krieg zur Bedingung für ihr Auftreten machen. Aber es ist deren Entscheidung. Eine Gesinnungsprüfung, die darf es nicht geben. Eine aktive Unterstützung der russischen Kriegsverbrecher sollte aber nicht hingenommen werden. Ein Extremfall ist der Dirigent Waleri Gergiew. Er ist – auch mit seinen profitablen, vom Regime unterstützten geschäftlichen Projekten – ein „Kulturoligarch“. Putin schmückt sich mit Gergiew.

 

Und noch etwas läuft falsch. Wer ist denn auf die absurde Idee gekommen, russische Kunst zu boykottieren, beispielsweise Komponisten und ihre Interpreten? Kunst und Kultur gehören zum besten Erbe dieses Landes. Sie verbindet nichts mit den Kriegsverbrechern. Und auch die russischen Kriegsdenkmäler hierzulande gehören respektiert. Millionen russischer Soldaten sind gestorben, um die Nazis niederzuringen.

 

Russland ist anders. Wir sollten uns an den Russen orientieren, die ihr Land kennen und verlässlich einschätzen. Ich denke an namhafte Schriftsteller. Orientieren wir uns an Wladimir Sorokin, an Wiktor Jerofejew. Ich denke an den Regisseur Serebrennikow und an Freiheitsverteidiger Nawalny. Wenn wir uns ihnen zuwenden, verstehen wir mehr von der „Seele“ ihrer Völker. Und alle äußern sich unmissverständlich zum Putin-Regime und zum Krieg. Was veranlasst nicht wenige unserer Landsleute eigentlich, Verständnis für Putins Behauptung zu haben, er fühle sich von der NATO bedroht. Sie bedroht niemanden. Sie ist ein Bündnis von 30 Staaten, um Frieden und Freiheit zu sichern. Putin fühlt sich nicht von der NATO bedroht, sondern von der Freiheit, von den Freiheitsbewegungen.

 

Was ist nun unsere Aufgabe, die Aufgabe der künstlerisch Tätigen, der Kulturverbände, der Kulturpolitiker in dieser Situation. Unsere Hilfe sollte kulturspezifisch sein. In erster Linie sollte sie die Geflüchteten aus der Kulturszene erreichen. Viele Initiativen haben sich auf den Weg gemacht. Die Hilfsbereitschaft ist sehr groß. Ich nenne stellvertretend für andere unser Programm, das des Kulturrates NRW „Kultur hilft Kultur“, das gemeinsam mit der Landesregierung auf den Weg gebracht wurde. Kern unserer Aktivität ist eine Plattform, auf der Hilfsangebote aus der Kultur für die Kultur versammelt sind. Damit wollen wir die Verbindung zu Kulturschaffenden in unserem Lande eröffnen. Die Hilfe kann auf vielerlei Weise erfolgen beispielsweise durch die Zurverfügungstellung von Ateliers oder von Künstlerwohnungen. Hilfreich ist auch der Aufbau persönlicher Kontakte, um den deutschen Kulturbetrieb besser kennenzulernen, Kontakte zu knüpfen, Arbeitsmöglichkeiten zu erkunden. Der Kern des Programms sind die Einzelvorhaben unserer Sektionen (Bildende Kunst, Literatur, Medien/Film, Musik, spartenübergreifende Kultur/Soziokultur, Tanz, Theater). Das allem übergeordnete Ziel ist, künstlerische Tätigkeit zu ermöglichen, unter anderem durch Aufnahme in bestehende Strukturen z. B. in Vereine, Chöre, Ensembles, vor allem auch in der Amateurmusik. Kontakte zu den Musikschulen, die bereits sehr aktiv sind. Im Bereich der Darstellenden Künste sind es die Verbindungen zu den Bühnen in allen Bereichen – auch im Tanz. Im Filmbereich bestehen schon erste Ergebnisse aus ­einem Online-Treffen der Filmhäuser und Filmwerkstätten, an denen ukrainische Filmschaffende bereits teilgenommen haben. Wichtige Themen waren dort die Frage nach Arbeitsmöglichkeiten, die Filmvermittlung für ukrainische Kinder, die Verbreitung ukra­inischer Filme, die Untertitelung ins Deutsche und anderes mehr. Der Bereich Soziokultur hat gemäß seiner umfassenden Aufgabenstellung zahlreiche Möglichkeiten, Hilfe zu leisten. Der bisherige Finanzierungbedarf aller Programme beträgt rund 600.000 Euro und ist vom Land gedeckt. Es kann und muss je nach Bedarf aufgestockt werden. Ein Patenschaftsprogramm wird vorbereitet. Im bisherigen Programm werden auch Miniprojekte gefördert. Die Landesmusikakademie bereitet Fortbildungen zum sensiblen Umgang mit Traumageschädigten vor. Der WDR begleitet das Vorhaben in seinem Kulturprogramm.

 

Eine Koordinierung mit Maßnahmen des Bundes ist notwendig. Gut, dass der Deutsche Kulturrat in bewährter Weise Konzepte entwickelt hat und auf deren Durchsetzung drängt. Auch der Schutz der Kulturgüter und der kulturellen In­frastruktur in diesem Vernichtungskrieg ist eine wichtige Aufgabe, zu der auf Bundesseite schon Entscheidungen getroffen wurden.

 

Die Welt mit ihren geopolitischen Realitäten verändert sich. Unser Land verändert sich. Wir befinden uns in Transformationsprozessen, die nahezu alle Lebensbereiche umfassen. Sie werden auch unsere Lebensweise in Zukunft bestimmen. Ein „weiter so“ wird es nicht geben. Die Kunst wird eine wichtige Rolle haben in dieser Phase des Epochenbruchs. Sie unterwirft sich nie, niemals. Wir müssen die Zukunft „neu denken“. Die Kunst wird diese Prozesse kritisch hinterfragen. Was machen sie mit uns, mit unserer Gesellschaft. Die Kunst hat immer die Hand am Puls der Zeit. Das wird sehr spannend werden. Wir haben es in der Hand, diese Herausforderungen zu bestehen. Unsere freie Gesellschaft bietet alle Voraussetzungen dafür.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/22.

Gerhart R. Baum
Gerhart R. Baum ist Innenminister a. D. und Preisträger des Kulturgroschens 2019 des Deutschen Kulturrates.
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