Antisemitismus ist …?

Ein Konsens über Israel existiert nicht mehr

Aber es gibt andere Beschreibungen. Deutschland will ja gerade im Selbstbild der kulturellen Eliten ein weltoffenes Land sein. Eine Initiative öffentlicher Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen reagierten auf diesen Beschluss mit ihrer eigenen Beschreibung der Wirklichkeit, die sie dann im Dezember 2020 „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ nannten. Es war eine Antwort eines Teils der Kulturelite auf die politische Elite verbunden mit der Machtfrage, wer in diesem Streit wohl die Deutungshoheit innehat. Diese verschiedenen Befindlichkeiten kamen im März 2021 noch einmal zum Tragen. Inmitten der Debatten um Erinnerung an Shoah und deutschen Kolonialismus gab eine Gruppe von jüdischen und nichtjüdischen Wissenschaftlern eine Erklärung ab, in der sie Antisemitismus so definieren, dass diese Neudefinition mit progressiver Politik übereinstimmen kann. Da die Initiative dieser Erklärung vom Jerusalemer Van-Leer Institut ausging, wurde sie dann auch die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ genannt.

 

Wie die Autorinnen und Autoren selbst betonen, ist sie im Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geschrieben, also ein Versuch, das Phänomenon des Antisemitismus allgemein und nicht partikular zu erklären. Gleich im Ersten Artikel wird dann auch Antisemitismus dem Rassismus untergeordnet, in einem späteren Teil wird auch klar zwischen Antisemitismus und Antizionismus unterschieden und auch Boykott als legitimer Widerstand beschrieben, der nicht unbedingt antisemitisch sein muss. Und wörtlich heißt es in Artikel 13: „Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.“

 

Damit unterwerfen sich die Verfasser einer bestimmten politischen Ansicht über Antisemitismus, Rassismus, Zionismus und Antizionismus. Sie ist natürlich keine wissenschaftliche Definition von Antisemitismus. Sie behauptet das auch nicht von sich, sondern dient als politische Gegenrede zu einer Definition des Antisemitismus, die von den Autorinnen und Autoren hier abgelehnt wird. Diese Definition, die sogenannte IHRA-Definition zum Antisemitismus von 2016, aufgesetzt von der International Holocaust Remembrance Alliance, einer 1998 gegründeten zwischenstaatlichen Einrichtung, ist das eigentliche Feindbild der „Jerusalemer Erklärung“. Dort heißt es: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.“

 

Des Weiteren besteht ein starker Bezug zu Israel, ja rückt die Israelkritik in Richtung Antisemitismus – sieben der elf Beispiele beziehen sich auf Israel. Auch diese Definition ist natürlich nicht wissenschaftlich, sondern eine politische Erklärung, eine These zur Jerusalemer Antithese. Die IHRA-Arbeitsdefinition ist israelbezogen, sieht Antisemitismus und Israelfeindschaft als sich gegenseitig konstituierende Phänomene. Diese Arbeitsdefinition ist Grundlage für viele Staaten, wie sie offiziell Antisemitismus zu definieren haben. So auch der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, der sich in einer offiziellen Erklärung dafür einsetzte, die IHRA zur Grundlage staatlichen Handelns in Fragen des Antisemitismus zu machen. Politisch gilt sie als Erfolg.

 

Das Problem mit beiden Definitionen ist, dass das Objekt ihrer Beschreibung im Dunkeln bleibt. Die IHRA-Definition spricht von „einer bestimmten Wahrnehmung von Juden“, während die Jerusalemer Erklärung gleich im Artikel 1 erklärt: „Es ist rassistisch zu essentialisieren“. Stimmt das überhaupt? Ist es rassistisch zu essentialisieren? Wenn das in der Tat so ist, wer ist dann der Jude oder die Jüdin, von denen die beiden Definitionen sprechen. Auch bei der IHRA ist das so. Ist es in der Tat antisemitisch, eine bestimmte Wahrnehmung von Juden zu haben? Warum sollte man keine bestimmten Wahrnehmungen über Juden haben, wenn Juden doch bestimmte Menschen sind?

 

Um was geht es in der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Definitionen eigentlich? Man erkennt einen innerjüdischen Diskurs zwischen den beiden Zentren jüdischen Lebens, Israel und die USA. Auf der einen Seite die Israelisierung der jüdischen Welt, wie der Staat Israel sich auch als der Nationalstaat des jüdischen Volkes versteht. Das bedeutet dann die Israelisierung des Antisemitismus. Hier geht es um das Partikulare, wie es auch in der Selbstdefinition Israels als jüdischer und demokratischer Staat ausgedrückt wird. Auf der anderen Seite die Amerikanisierung des jüdischen Lebens, die sich universal an Menschenrechten orientierend, Antisemitismus und Rassismus zusammendenken zu wollen. Es ist auch ein innerjüdischer Diskurs zwischen denjenigen, die sich eher distanziert und kritisch zu dem Staat Israel positionieren und in ihrem Diasporajudentum eine ethische Position sehen, und denjenigen, für die Israel eine Heimat geworden ist, auch wenn sie nicht dort leben. Dieser innerjüdische Diskurs trifft dann auf deutsche Befindlichkeiten, die mit dem Begriff historischer Verantwortung argumentieren und für die Israels Sicherheit Staatsräson ist. Aber nicht nur deutsche Befindlichkeiten stehen hier auf dem Spiel, sondern auch solche, die von außen kommen und dann auf deutsche, innerjüdische und nahöstliche Wirklichkeitsbeschreibungen treffen. All dies ist nun in den gewaltvollen und auch antisemitisch konnotierten Demonstrationen während des letzten Gaza-Krieges in Israel im Mai 2021 aufgebrochen. Nicht um sogenannten importierten Antisemitismus geht es hier, sondern um vieldimensionale Wahrnehmung eines Phänomens, das den Namen Antisemitismus trägt und kein monolithisches Konzept ist.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Natan Sznaider
Natan Sznaider ist Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv-Yaffo.
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