Der Markt im Mittelalter war nicht nur ein Ort des Warenhandels, sondern ein geselliger Ort mit Sängern, Gauklern und Schaustellern. So nutzte z. B. auch die Kirche den Markt als soziale Begegnungsstätte, in Form von Kirchenfesten oder der Zurschaustellung von Reliquien.
Auch die Künste waren in der historischen Retroperspektive eher soziale Begegnungsorte denn Selbstzweck. Konzerte waren lange Zeit mit einem religiösen oder höfischen Anlass oder Bankett verbunden. Erst mit Beginn des bürgerlichen Musiklebens im 18. Jahrhundert wurde während des Konzerts still und konzentriert zugehört. Aber selbst heute ist der Konzertbesuch ohne Pause mit Imbiss, Getränk und geselligem Austausch kaum vorstellbar.
In den letzten Jahrzehnten haben Kunst und Kultur diesen sozialen Aspekt wieder stärker in den Fokus gerückt, in Form von Theater- und Museumsnächten oder der Etablierung von Museumscafés. Auch Bibliotheken entdecken zunehmend ihren Wert als „Dritte Orte“, verwandeln sich in Multifunktionsräume mit integrierten Spielplätzen, Cafés und vielem mehr. Die Ausleihe als Hauptzweck rückt dabei zunehmend in den Hintergrund.
Die Praxis des mittelalterlichen Marktgeschehens erklärt dann auch, warum das Stadtzentrum als Weiterentwicklung des „Markts“ nicht nur zahlreiche Einkaufsgelegenheiten bündelt, sondern zugleich der Sitz vieler kultureller Einrichtungen ist.
Dabei ist die Frage nach der zentralen „gerechten“ Erreichbarkeit von Ware oder Kultur für die Bürger zunehmend in den Hintergrund gerückt. Mit dem Ausbau der Städte wurde eine Stadtzentrumslage auf dem Wohnungsmarkt zunehmend attraktiv. Dies hat dazu geführt, dass spezielle Warenangebote, wie große Supermärkte oder Einkaufszentren, die vielfältige Einkaufsangebote bündeln, in weniger teure Außenbezirke abgewandert sind. Spannenderweise hat der umgekehrte Weg der Kultur, alternative Kulturangebote unter dem Motto „Kultur für alle“ in weniger zentralen Stadtteilen zu etablieren, vielfach dazu geführt, dass diese Stadtteile in Folge für den Wohnungsmarkt wieder attraktiver wurden und zu einer „Gentrifizierung“ führten: Da, wo sich Kunst und kreative Szenen in einer Großstadt bündeln, wächst das Interesse Besserverdienender, sich dort niederzulassen.
Die Einschränkungen der Pandemie hatten vielfach ein Innenstadtsterben zur Folge, durch Konkurs und das Abwandern von Einzelhändlern und Gastronomie. Doch hat hier möglicherweise die Pandemie, bezogen auf den Einzelhandel, lediglich einen Prozess beschleunigt, der sich in seiner Entwicklung schon längst abzeichnete: die Existenz einer jungen Generation, die zunehmend Großteile ihres sozialen Lebens ins Digitale verlagert, viele Beziehungen nur digital pflegt, da diese im realen Leben, nach Aussage von Jugendforschern zur „Generation Z“, nicht belastbar seien. Natürlich gibt es auch gute Gründe für den Online-Einkauf, wie die ortsunabhängige Verfügbarkeit und die Möglichkeit des Preisvergleichs. Auch viele Ältere haben in der Pandemie diese Vorteile schätzen gelernt.
Die zunehmende Verlagerung von Lebensbereichen ins Digitale ist jedoch nicht nur eine Gefahr für den Einzelhandel der Innenstädte, sondern auch sehr konkret für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie können soziale analoge Begegnungen mit Dritten – jenseits der Familie und des Freundeskreises – wieder gestärkt werden?
Möglicherweise bedarf es eines starken Bündnisses aller „Zünfte“ zur Wiederbelebung zentraler Aspekte des mittelalterlichen Marktgeschehens: Bürgerbegegnungskonzepte für Innenstädte, wo Kultur, Dritte Orte, Handel und Gastronomie Hand in Hand arbeiten, um nicht nur die eigene Existenz zu sichern, sondern im Zuge eines gemeinsamen Pakts anstreben, soziale Begegnungen mit Dritten jenseits des eigenen sozialen Umfelds wieder zu normalisieren!
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.