Reformation und Bildung? Reformation durch Bildung!

„Aufs erste erfahren wir jetzt in deutschen Landen durch und durch, wie man allenthalben die Schulen zergehen lässt.“

 

Diese Feststellung, die auch dem Munde des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, kommen könnten, stammt von Martin Luther aus dem Jahr 1524 – hat aber an Aktualität nichts verloren. Wieder einmal ist das deutsche Bildungssystem reformbedürftig. Spätestens seit PISA ist Deutschland auch in der „gefühlten“ Bildungskrise: Seitdem reißen die schlechten Nachrichten in Sachen Bildung nicht ab. Das deutsche Bildungssystem ist leistungsschwach und hochselektiv. Kinder aus armen und sogenannten bildungsfernen Familien, mit Migrationshintergrund und Behinderungen haben in diesem System schlechte Chancen, ihre Begabungen zu entdecken und ihre Potenziale zu entfalten. Ihr Recht auf Bildung ist unter diesen Bedingungen nicht verwirklicht.

 

So alarmierend diese Befunde auch sind, eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit haben sie erst im Zusammenspiel mit aktuellen demografischen und wirtschaftlichen Prognosen erhalten. Denn plötzlich wurde deutlich, dass Deutschland angesichts eines mittelfristig zu erwartenden Fachkräftemangels einmal mehr in eine Bildungskatastrophe steuert. Seitdem ist Bildung wieder in aller Munde und im aktuellen Koalitionsvertrag ist sogar von der „Bildungsrepublik Deutschland“ die Rede. Die Bedeutung der Ressource Bildung ist jedoch keine Entdeckung des 20. bzw. 21. Jahrhunderts, denn bereits 1524 schrieb Luther an die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen: „Sondern das ist einer Stadt bestes und allererstes Gedeihen, Heil und Kraft, dass sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlerzogener Bürger hat, die könnten darnach wohl Schätze und alles Gut sammeln, halten und recht brauchen.“

„Zu Recht sind Bildung und Protestantismus in der deutschen Geistesgeschichte eng verknüpfte Begriffe.“

Zu Recht sind Bildung und Protestantismus in der deutschen Geistesgeschichte eng verknüpfte Begriffe. Philipp Melanchthon hat sich durch seine grundlegende Schul- und Universitätsreform den Ruf als „Praeceptor Germaniae“ – Lehrer Deutschlands erworben. Er unterwies nicht nur Luther in der griechischen Sprache, sondern war auch Motor seiner Bibelübersetzung. Antrieb war beiden der Wunsch, Menschen zum Verstehen zu befähigen. Sie sollten die Bibel lesen können, um sich selbst ein Bild machen zu können, um sich eine Meinung zu bilden und urteilsfähig zu werden. Melanchthon und Luther erkannten, dass Sprache ein wesentlicher Schlüssel der Erkenntnis ist und mehr als „nur“ Verständigung von ihrer Kenntnis abhängt. Lange wurde diese Perspektive auf den Spracherwerb in Deutschland vernachlässigt: Aktuell stehen wir vor der Herausforderung, die Grundlagen der Mehrsprachigkeit, die viele Kinder und Jugendliche in Deutschland durch ihren Migrationshintergrund mitbringen, so zu entwickeln und zu fördern, dass nicht nur Verständigung möglich wird, sondern dass sie sowohl in der deutschen als auch in weiteren Sprachen beheimatet sind. Melanchthon und Luther waren sich darin einig, dass Bildung kein exklusives Gut für Wenige sein darf, sondern dass es der „allerbesten Schulen, beide für Knaben und Maidlein“ – wie Luther schrieb – bedarf, damit Leben in Gemeinschaft gelingen kann. Dieser inklusive Gedanke muss für die heutige Zeit fortgeschrieben werden. Mehr denn je gilt es, Bildung zu demokratisieren und den hier vorherrschenden Matthäus-Effekt „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden“ (Matthäus 25, 29) zu durchbrechen. Die Erkenntnis, dass nicht nur Geschlecht sondern auch die Lebenslage Armut sowie die elterliche Bildung, über das Gelingen und Scheitern von Bildungskarrieren entscheiden, muss sich in grundlegenden Schul- und Bildungsreformen niederschlagen.

 

Dazu gehört auch die Bildung von Anfang an, welche die Lust am Entdecken, Verstehen und Gestalten fördert und keinen künstlichen Gegensatz zwischen Lernen und Spielen konstruiert. Alle Kinder sollten die Chance bekommen, gemeinsam mit anderen Kindern, in Kindertageseinrichtungen oder Einrichtungen der Tagespflege diese Erfahrungen zu machen und so ihre Begabungen zu entwickeln, denn, um es mit Luther zu sagen, sie sind „jung und müßig, geschickt und lustig dazu“.

 

Bei allem Eifer um die kognitive Seite der Bildung, um Verfügungswissen und damit auch um wirtschaftliche Prosperität, darf die kulturelle und hier auch die religiöse Dimension von Bildung nicht vergessen werden. Denn spätestens die Finanzkrise offenbarte eine weitere Bildungskrise: Es zeigte sich, dass auch in sogenannten gebildeten Schichten und bei den „Bildungsgewinnern“ ein eklatanter Mangel an ethischer Orientierung möglich ist und Verfügungswissen ohne Orientierungswissen nicht weiter hilft.

 

Bildung hat immer ein reformatorisches und damit auch revolutionäres Moment, sie setzt Potenziale frei, deckt Abhängigkeiten auf und bringt Prozesse und Menschen in Bewegung. Reformation war und ist ohne Bildung nicht möglich.

Kerstin Griese
Kerstin Griese ist Mitglied des Bundesvorstand des Diakonischen Werkes der EKD.
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