Wer könnte ohne Luther auskommen! Ein linker Atheist, dessen Dogmen noch gründlicher gescheitert sind als die der katholischen Kirche, schon gar nicht, jedenfalls, wenn er lernwillig sein mag. Dass unsere hochdeutsche Sprache auf die Verbreitung und Wirkung seiner Bibelübersetzung zurückgeht, wurde jedenfalls in meiner Schulbildung noch vermittelt. Selbst mein jüdischer Vater brachte aus der englischen Emigration eine Bibel der „Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers“ mit, die zu meiner beständigen Lektüre gehört. Und zu den marxistischen Wurzeln meines Denkens gehörte selbstverständlich Friedrich Engels’ „Dialektik der Natur“ mit dem berühmten Satz zur Renaissance als einer „Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit“. Es gibt wohl keinen vergleichbaren Zeitabschnitt mit einer größeren Zahl an geistigen Größen, doch Engels nennt nur vier Namen als Beispiele: Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Machiavelli und selbstverständlich Martin Luther, von dem er sagte, er „fegte nicht nur den Augiasstall der Kirche, sondern auch den der deutschen Sprache aus, schuf die moderne deutsche Prosa und dichtete Text und Melodie jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde“.
Ich bin auch mit dem Luther-Satz aufgewachsen: „…man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen…“ Es fällt mir allerdings schwer, mir vorzustellen, wie Luther mit dieser Methode klar käme, den vermüllten Augiasstall der heutigen deutschen Sprache auszumisten, die von Redaktionen, Internet, internationaler Kommerzkultur „outgesourct“ wurde, so heißt das wohl im aktuellen Deutsch, und für Augiasstall wird man vielleicht auch schon „pigsty“ sagen müssen.
Luther ist in vieler Hinsicht hochaktuell. Als der Herausgeber der „FAZ“, Frank Schirrmacher kürzlich schrieb, er beginne zu glauben, dass die Linke Recht habe, blieb er einige Jahrhunderte oder zwei Jahrtausende hinter den Glaubens-, ja Wissensmöglichkeiten zurück. Mit einem Blick in Luthers Schriften „An den christlichen Adel deutscher Nation“ oder „An die Pfarrherrn wider den Wucher“ hätte er auch schreiben können: „Luther hatte Recht! Oder Jesus hatte Recht! Oder Mohammed hatte Recht!“ Wenn nicht machtvolle Interessen so wenig eingeschränkt herrschten, was brauchte man gegenwärtig eigentlich mehr, um die erforderlichen politischen Veränderungen durchzusetzen, als Luthers Erkenntnis: „Hier müsste man wahrlich auch den Fuggern und dergleichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen. Wie ist’s möglich, dass es göttlich und gerecht zugehen sollte, dass in einem Menschenleben so große, königliche Güter auf einen Haufen gebracht werden könnten?“
„Aus Überzeugung zu reden, zu widersprechen, zu handeln – (…) Luther bleibt dafür ein beständiger Anstoß.“
Oh, Luther kann mich auch zornig machen. Seine Hetzschriften wider die gegen Hunger und Rechtlosigkeit aufgestandenen Bauern, die Täufer, „Hexen“ und gegen die Juden empören mich umso mehr, als sie von einem so großen und bewunderungswürdigen Manne stammen, und er in allen Fällen seine Meinung von einem gewissen Verständnis und partieller Toleranz bis zu blutiger Rhetorik wandelte. Schlimmer: So weit ich es einzuschätzen vermag, änderte er wohl nicht seine Meinung, sondern opferte sie der Machtpolitik.
Und doch sind es sein Mut, seine Festigkeit und Konsequenz, für Überzeugungen auch unter bedrohlichsten Umständen einzustehen, die mich an Luther fesseln und in einem viel zu langen Weg beigetragen haben, mich selbst freier zu machen. Kirchlichen Bann, kaiserliche Acht vor Augen, auf dem Reichstag zu Worms zu erklären: „Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist“, das war eine Haltung, zu der ich selbst viele, viele Jahre und unter unvergleichlich einfacheren Umständen nicht bereit und fähig war.
Ich muss schon älter als dreißig gewesen sein, als ich Fichtes „Die Bestimmung des Menschen“ las: „Ich habe andern eine Teilnahme für die höchsten Angelegenheiten der Menschheit, einen Ernst, eine Genauigkeit zugetraut, die ich in mir selbst keinesweges gefunden hatte. Ich habe sie unbeschreiblich höher geachtet als mich selbst. Was sie etwa Wahres wissen, woher können sie es wissen, außer durch eigenes Nachdenken? Und warum sollte ich durch dasselbe Nachdenken nicht dieselbe Wahrheit finden, da ich ebenso viel bin als sie? Wie sehr habe ich bisher mich selbst herabgesetzt und verachtet! Ich will, dass es nicht länger so sei!“ Bis heute erinnere ich mich lebhaft, welchen Aha-Effekt diese und die weiteren Zeilen in mir auslösten. Und welche Scham, eine solche Selbstverständlichkeit so spät und durch eine solche Äußerlichkeit für mich zu entdecken.
Auch bei Marx war das Ziel das freie Individuum („… eine Association, worin die freie Entwicklung eines Jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“). Doch die emanzipatorischen Subjekte waren kollektiv (die Klasse, die Gesellschaft, die Partei), und für die SED waren individuelle Freiheit und libertäre Ansprüche Bedrohung und Verrat. Einmal las ich in einer Schulklasse über Frieden und atomare Abrüstung. Die Lehrerin und die Schülerinnen und Schüler wollten anschließend dafür demonstrieren. Doch natürlich durften sie es nicht. Auch Friedensdemonstrationen mussten von Oben organisiert werden. Es hat auch dann noch gedauert, eine ganze epochale Wende, bevor aus meiner intellektuellen Einsicht auch persönliche Praxis wurde. Das kostet heute und hierzulande nicht das Leben wie zu Luthers Zeiten, nicht einmal mehr einen Parteiausschluss, nur noch die unsäglich zählebigen, aber banal gewordenen Verratsvorwürfe, „Häresie“ hieß es in Luthers Bannbulle, der Verstoß gegen das Dogma, wie Häresie im „Codex Iuris Canonici“ definiert wird. Damals praktisch ein Todesurteil. Aus Überzeugung zu reden, zu widersprechen, zu handeln – einfach und offensichtlich noch immer kein selbstverständlicher Anspruch. Luther bleibt dafür ein beständiger Anstoß.
Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 03/2012 erschienen.