Keine „normalen“ Museen

Bildungsarbeit an brandenburgischen Gedenkstätten

Günter Morsch leitete bis Ende Mai 2018 die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen – Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Theresa Brüheim sprach mit ihm über die Rolle, Funktion und Zukunft von Gedenkstätten als Orte politischer, historischer und kultureller Bildung.

 

Theresa Brüheim: Professor Morsch, Sie leiten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Welches Selbstverständnis haben Sie von Ihrer Arbeit? Verstehen Sie Ihre Arbeit als politische, historische oder kulturelle Bildung?
Günter Morsch: Ich bin ausgebildeter Historiker, war viele Jahre gewerkschaftlicher Bildungsreferent und komme aus dem Museumsbereich, denn ich war fünf Jahre lang im Rheinischen Industriemuseum tätig. D. h., ich verstehe mich als jemand, der kulturell tätig ist. Aber zwischen politischer, historischer und kultureller Bildung machen wir gerade an den Gedenkstätten keine Trennung. Zumal wir in den 1990er Jahren in den Gedenkstätten einen Paradigmenwechsel erlebt haben, der wesentlich von Sachsenhausen ausging. Wir haben uns 1993 bereits umbenannt: Statt Mahn- und Gedenkstätte sagen wir Gedenkstätte und Museum. Damit verbanden wir ein neues Konzept, dass Gedenkstätten zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben sind. Diese große Varianz unserer Tätigkeit ist bezeichnend für unsere Orte und geht über das Profil von »normalen« Museen hinaus.

 

Sie sprechen schon die Umstrukturierung in den 1990er Jahren an. Sie

sind seit 1993 in Sachsenhausen tätig und haben dort den Umbau der Gedenkstätte zum historischen Museum angestoßen. Wieso war das wichtig?
Der wichtigste Grund war, dass diese Orte in der DDR Tempel des Antifaschismus waren, die von der DDR-Regierung instrumentalisiert wurden, um die angebliche Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu dokumentieren und den Anspruch zu erheben, dass die DDR Erbe des Widerstandes und der KZ-Häftlinge sei. Der zweite Grund war, dass die westdeutschen Gedenkstätten zwar in den 1980er Jahren erkämpft worden sind, sie aber bis zur deutschen Einheit eher marginalisierte Orte geblieben sind, die den Charme, aber auch die Handicaps von Orten hatten, die von unten gegen mehr oder weniger hartnäckigen Widerstand erkämpft worden sind. Nach 1990 dann wuchs etwas zusammen, was zusammengehört – um mit Willy Brandt zu sprechen. Dies konnte nur geschehen, indem es ein völlig neues Konzept gab. Hinzu kam als dritter Grund – das gilt vor allen Dingen für Sachsenhausen und Buchenwald –, dass diese Orte nicht nur Konzentrationslager waren, sondern nach 1945 auch sowjetische Speziallager, in denen viele Menschen verhungert oder an Seuchen gestorben sind. Diese drei Gründe führten dazu, dass eine Bundestags-Enquetekommission eingerichtet wurde. Das gab den Anstoß, grundsätzlich über die deutschen Gedenkstätten nachzudenken.

Aber der entscheidende Punkt, der diesen Paradigmenwechsel durchsetzte, ist zweifellos das außenpolitische Erfordernis gewesen. Die neue Bundesrepublik Deutschland wollte natürlich als gleichberechtigter Staat wieder in den Kreis aller Staaten und Nationen aufgenommen werden. Und das berechtigte Misstrauen der Nachbarn, ob nun im Osten oder im Westen, war sehr groß. Denken Sie etwa an Mitterrands Aussage, er liebe Deutschland so sehr, dass er gerne zwei hätte, oder Maggie Thatcher, die die deutsche Einheit sehr vehement bekämpft hat. Entsprechend war die Wiederaufnahme in die internationale Gemeinschaft nur durchsetzbar, indem Deutschland klarmachte, dass die Verbrechen, die im Dritten Reich begangen worden waren, nicht nur nicht vergessen, sondern auf Dauer einen Ort finden werden, wo die Opfer gewürdigt werden und somit diese Geschichte kritisch aufgearbeitet wird.

 

Welche Auswirkung hatte dieser Paradigmenwechsel auf die bildungspolitische Vermittlung des Ortes?
Dabei waren die westdeutschen Gedenkstätten durchaus den ehemaligen DDR-Gedenkstätten voraus – nicht alle, aber die meisten. Es gab in Westdeutschland eine moderne Pädagogik und Didaktik, die auf Selbstlernen und Lerntechniken setzte, die auch Identifikation über Biografien vermittelt und sich selbst als offener Lernort verstanden hat. Das ist nicht nur bei den DDR-Gedenkstätten, sondern auch bei einzelnen westdeutschen KZ-Gedenkstätten anders gewesen. Dort setzte man vor allen Dingen auf das Konzept der Betroffenheit. D. h., da ging es vor allen Dingen darum, die Besucher zu emotionalisieren, sie in einer Art konfrontativem Unterricht zu belehren. Es wurden weniger Fragen aufgeworfen, es war weniger diskursiv, dialogisch und interaktiv. Diese Betroffenheitspädagogik war schon 1990 an ihr Ende gekommen, weil die Generationen sich verändert hatten. Für meine Generation war diese Betroffenheitspädagogik durchaus noch nützlich, weil wir uns auch in der Familie mit den Fragen der Bewältigung oder des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Das galt natürlich für spätere Generationen immer weniger. Daher war es dringend erforderlich, dass die Bildungspolitik und -arbeit in den Gedenkstätten reformiert und verändert werden musste.

 

Sie sind seit über 20 Jahren an den brandenburgischen Gedenkstätten tätig. Rückblickend betrachtet: Inwieweit läuft politische Bildung Gefahr, von unterschiedlichen Interessengruppen an den Gedenkstätten politisch instrumentalisiert zu werden?
Das haben wir leider immer wieder. Es hat natürlich damit zu tun, dass die Bedeutung der Gedenkstätten gewachsen ist. Damit eignen sie sich als Foren für bestimmte Interessengruppen, Geschichtsnarrative und Instrumentalisierungen. Wobei das nichts Neues ist: Immer wieder wird versucht, Geschichte zu instrumentalisieren. Aber das hat natürlich bei dieser malignen Geschichte, mit der wir es an diesen Orten zu tun haben, eine besondere Bedeutung. Insoweit haben wir hier eine besondere Verantwortung, diese Geschichte diskursiv zu lehren. Aber diese Instrumentalisierung kommt bis heute vor – vonseiten der Verbände, Interessengruppen, Politik und des Staates.

Dabei hat sich das Modell, das die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten als erstes entwickelt hat, nämlich eine autonome selbstbestimmte Stiftung zu sein, die inhaltlich weitestgehend autonom ist und von Beiräten und Fachkommissionen beraten wird, durchgesetzt. Sogar die Bayern haben das brandenburgische Modell übernommen. Um Instrumentalisierung vorzubeugen, müssen selbstständige Strukturen weiter gestärkt werden und Verantwortliche eingesetzt werden, deren Integrität sowohl im Wissenschaftlichen wie im Kulturellen solche Kämpfe aushalten kann.

Bei der Vermittlung der Schrecken der NS-Diktatur haben bisher Zeitzeugen immer eine große Rolle gespielt. Diese werden immer weniger… Kommt dadurch Gedenkstätten eine immer wichtigere Bedeutung als Erinnerungsort und Mahnmal zu?
Zeitzeugen sind nicht zu ersetzen. Wir haben allerdings seit 1993 Vorsorge getroffen. Wir haben eben diesen Wandel zum Museum realisiert, was in den Gedenkstätten zeitweise sehr umstritten gewesen ist. Insoweit ist es richtig, die authentischen Orte gewinnen zweifellos an Bedeutung. So galten vor 1990 in der Bundesrepublik durchaus nicht alle Gedenkstätten als Denkmale, die dem Denkmalschutz unterliegen. Die Herausstellung der baulichen Relikte unter Denkmalgesichtspunkten ist ein Ergebnis dieses angesprochenen Paradigmenwechsels. Die „Attraktivität“ dieser Orte für Millionen von Menschen, die vermehrt in die Gedenkstätten kommen, ist natürlich auch ein Ergebnis der Authentizität dieser Zeugnisse.

 

Wie sollten sich Gedenkstätten in Zukunft weiterentwickeln, welche Rolle müssen sie weiterhin übernehmen?
Zum einen müssen sie – ganz wichtig – weiterhin inhaltlich autonom bleiben. Diese inhaltliche Autonomie muss mit einem starken Standbein im Bereich der Wissenschaft einhergehen. Wissenschaftliche Forschung geht leider, gerade wenn sie von den Universitäten kommt, häufig an diesen Orten vorbei. Das haben wir in den 1990er Jahren anders ausrichten können, wo es auf Druck der Gedenkstätten überhaupt erst eine KZ-Forschung gegeben hat. Aber auch heute müssen Gedenkstätten Ankerpunkte der wissenschaftlichen Forschung bleiben. Zum anderen müssen sich Gedenkstätten auch den unterschiedlichen Fragen und Sichtweisen öffnen. So müssen die sich gesellschaftlich ständig ändernden Fragen einen Widerhall in den Gedenkstätten finden. Weiterhin wandeln sich diese Sichtweisen natürlich. Damit hängt die sich ebenfalls verändernde Bedeutung der Artefakte zusammen. Außerdem ändern sich die Betrachtung durch die Medien und die medialen Formen. Interaktivität ist gefragt. Social Media muss sehr viel stärker berücksichtigt werden. D.h., die Gedenkstätten müssen sich – und sie tun es auch – gegenüber aktuellen Entwicklungen öffnen. Darüber hinaus sind die Gedenkstätten auch in Zukunft herausgefordert, sich politisch einzumischen. Das setzt aber voraus, dass die Autonomie einerseits gestärkt wird und dass es an der Spitze der Gedenkstätten Menschen gibt, die nicht nur historisch, sondern auch politisch denken. Wenn die Gedenkstätten nicht erstarren wollen in Ritualisierung, dann kommt es darauf an, dass sie sich in die gesellschaftlichen Debatten, wie z. B. um die AfD, die Wiederkehr des Antisemitismus oder den drohenden Zerfall Europas einmischen. Sie sollten dies nicht tun, indem sie sich auf die Autorität der Opfer berufen. Das wäre eine üble Instrumentalisierung der Toten. Sie sollten es tun, indem sie den Auftrag aufgreifen, dass sie Foren einer lebendigen Demokratie sind.

 

Anfang Mai dieses Jahres haben Sie dem „Tagesspiegel“ ein Interview gegeben. Dabei haben Sie unter anderem über die heute verbreitete Unkenntnis der Berliner über die Bedeutung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Oranienburg während der NS-Zeit gesprochen. Diese Unkenntnis haben Sie als Scheitern bezeichnet. Wie ist es Ihrer Meinung nach zu diesem Scheitern gekommen?
Das ist ein ganz, ganz schwieriger Prozess. Die Frage des Verhältnisses von Sachsenhausen zu Berlin ist durch den Kalten Krieg und die Mauer geprägt worden. 1961, als die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen eröffnet worden ist, war es sicherlich ein Staatsakt der DDR. Walter Ulbricht hat gesprochen. Die Geschichte ist hemmungslos für die DDR instrumentalisiert worden. Zur gleichen Zeit hat sich in Westberlin der Mythos herausgebildet, Sachsenhausen sei vor allen Dingen ein »rotes Konzentrationslager« gewesen. Sogar Willy Brandt hat fatalerweise auf einem Gegenkongress gesagt, mehr als 50 Prozent der Häftlinge des sowjetischen Speziallagers seien Sozialdemokraten gewesen. Das führte tatsächlich im Kalten Krieg und durch die Mauer zu einer Art Stigmatisierung von Sachsenhausen. Ich habe den Eindruck, dass dies trotz Mauerfall und deutscher Einheit nach wie vor der wirklichen Anerkennung von Sachsenhausen im Wege steht.

Redet man dagegen über München in der NS-Zeit, dann redet man auch, und zwar in erster Linie, über Dachau. Auch wenn beide eine sehr konfliktreiche Vergangenheit haben. Wenn man über Berlin in der NS-Zeit redet, dann kommen die wenigsten auf Sachsenhausen. Das ist anhand der vielen Bücher, die über die Geschichte von Berlin erschienen sind, nachweisbar. Da ist es schon merkwürdig, wie viele Autoren die Berliner Geschichte plötzlich am Stadtrand von Reinickendorf oder gar von Birkenwerder enden lassen. Denn gerade im KZ Oranienburg, dem ersten KZ in Preußen, war die Mehrheit der Inhaftierten aus Berlin – berühmte Namen, Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratie und viele andere mehr. Schauen Sie in die Geschichte der Berliner Sozialdemokratie, da wird das noch nicht mal erwähnt. Das ist schon ganz merkwürdig. Ich kann es mir nur so erklären – und da spekuliere ich –, dass der Grund die fehlende Forschung als eine Nachwirkung von Kaltem Krieg und Mauer ist.

 

Was kann heute getan werden, um diese Unkenntnis zu bekämpfen und die Schrecken der NS-Diktatur adäquat zu vermitteln?
In Berlin hat man schon einige Dinge unternommen. Sachsenhausen ist Teil der Ständigen Konferenz der NS-Dokumentationsstätten im Berliner Raum, zusammen mit der Wannseekonferenz, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Topographie des Terrors und dem Holocaust-Denkmal. Das ist ein Schritt. Bezeichnend ist, dass diese nicht vom Berliner Senat, sondern von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien eingerichtet wurde. Allerdings ist seit 2006 die Anzahl der Schülergruppen aus Berlin sehr stark rückläufig – bei einer allgemein stark steigenden Anzahl von Besuchern und auch einer wachsenden Zahl von Gruppen aus Brandenburg. Deutlich wird, dass es eine berlinspezifische Angelegenheit ist.

 

Vielen Dank.

 

Das Interview fand kurz vor dem Ruhestand von Günter Morsch im Mai 2018 statt.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.

Günter Morsch und Theresa Brüheim
Günter Morsch leitete die Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen – Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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