Vom Scheitern politischer Bildung

Kriterien des Erfolgs politischer Bildung

Der Erfolg politischer Bildung in Demokratien kann sich an mehreren Kriterien bemessen. Bei einer individualistischen Perspektive steht das Wissen, die Motivation und die Handlungskompetenz einzelner Personen im Vordergrund: Bürgerinnen und Bürger sollen sich für Politik interessieren, ihre Entscheidungen nach gründlicher Recherche und systematischer Abwägung fällen, Rechte und Pflichten sorgfältig wahrnehmen und anderen Akteuren im Zeichen von Toleranz und Kompromissbereitschaft begegnen. Anders verhält es sich, wenn das politische System als Bezugspunkt dient: Dann geht es bei der politischen Bildung darum, dass sie in hinreichendem Ausmaß für die allgemeine Unterstützung der Demokratie bei Wahlen und Abstimmungen sorgt und einer ausreichenden Anzahl von Akteuren die Kompetenz vermittelt, aktiv am Prozess der politischen Gestaltung – etwa in Parteien oder Parlamenten – mitzuwirken.

 

Das erste Kriterium führt unweigerlich zum Scheitern der politischen Bildung: Es gelingt demokratischen Staaten nicht, Kinder und Jugendliche flächendeckend in wohlinformierte Tugendbolzen zu verwandeln. Gleichwohl ist diese Fiktion für die Pädagogik sehr attraktiv, weil es bei der Formulierung von Zielen der politischen Bildung kaum eine Alternative dazu gibt, das Optimum für alle Lernenden anzustreben. Ein Bildungsideal, dass für fünf Prozent der Kinder aktives politisches Engagement und für weitere 50 Prozent die regelmäßige Bereitschaft zur Ausübung des aktiven Wahlrechts vorsähe und für den Rest politische Apathie in Kauf nähme, wäre mit demokratischen Gleichheitsgeboten nur schlecht vereinbar, und es würde sich prinzipiell nichts ändern, wenn die Prozentwerte für die ersten beiden Kategorien weiter hochgeschraubt würden.

 

Empirisch gesehen liegt diese Einteilung in eine kleine Gruppe von Protagonisten und zwei große Gruppen von interessierten Zuschauern und Politikverächtern der Realität indes ziemlich nahe – wobei allerdings noch zwei unerfreuliche Ergänzungen notwendig sind: Zum einen verhält es sich so, dass in vielen Ländern die Zahl der Politikverächter stark anwächst, was sich in sinkenden Wahlbeteiligungen zeigt. Und zum anderen neigen einstmals interessierte Zuschauer, die früher aufgrund von Milieubindungen recht zuverlässig für große Volksparteien gestimmt haben, mehr und mehr zum politischen Krawall, wobei sie dann die Grenze zum Aktivismus der Protagonisten überschreiten, dies allerdings in der Form von rechten oder linken populistischen Bewegungen tun, die konträr zu Grundregeln der liberalen Demokratie stehen, weil sie umständlichen Prozeduren der Rechtsstaatlichkeit mit radikalen Simplifikationen begegnen wollen.

Schien 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer ein globaler Siegeszug der liberalen Demokratie eingeleitet, hat sich die Euphorie nach der Jahrtausendwende gelegt und ist inzwischen einem Trend zur Jämmerlichkeit gewichen. Zum einen werden diese Demokratien durch fundamentalistischen Terror bedroht und zum anderen scheinen sie immer weniger in der Lage zu sein, auf gravierende Probleme wie Armut und Migration erfolgreiche Antworten zu finden. Konnte 1989 sehr gut dafür argumentiert werden, dass der Triumph von Demokratie und Kapitalismus Hand in Hand gehen, stellt es sich nun so dar, dass demokratische Nationalstaaten unter den Druck einer marktwirtschaftlichen Globalisierung geraten, die dazu nötigt, Mechanismen wohlfahrtsstaatlicher Absicherung zu senken oder völlig außer Kraft zu setzen. Daraus ergibt sich für die politische Bildung zunächst einmal ein recht trübes Bild: Nicht nur, dass die Fiktion des wohlinformierten Tugendbolzens wohl niemals der Realität entsprochen hat; nun ist es so, dass auch die Mixtur von Aktivisten, freundlichen Zuschauern und Ignoranten nicht mehr stimmt und damit das Kriterium der diffusen Legitimation der Demokratie nicht mehr erfüllt ist.

 

Allerdings ist es ratsam, von dieser Diagnose etwas zurückzutreten und sie distanziert zu betrachten: Möglicherweise besteht hier das Problem, die Funktion der Schule als Universalwerkstatt für die Beseitigung demokratischer Defekte zu überschätzen, sodass ein Scheitern politischer Bildung diagnostiziert wird, wo es sich um eine Krise handelt, deren Ursprung nicht pädagogischer Natur ist. Und vielleicht handelt es sich bei den weltuntergangsfreudigen Klagen über die kommende Hegemonie von Fundamentalismus und Populismus um Dramatisierungen, die aus dem Reflex entstehen, dass unsere Erwartungen an Normalität enttäuscht werden. Solche Enttäuschungen haben indes auch frühere Generationen durchgemacht – und die liberale Demokratie hat sich als ein erstaunlich flexibles Medium für die Verarbeitung solcher Enttäuschungen erwiesen. Die politische Bildung kann diese Verarbeitung unterstützen, indem sie sich von der Fiktion des demokratischen Tugendbolzens verabschiedet und das politische Leben als Komponente einer humanen Bastel­existenz thematisiert.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.

Carsten Quesel
Carsten Quesel ist Professor an einer Pädagogischen Hochschule in der Schweiz.
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