Mehr als nur Industriepolitik

Drei Fragen an Kai Niebert

Der Kultur- und der Naturbereich stehen seit Jahren im engen Austausch zur Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft. Kai Niebert, Präsident des Deutschen Naturschutzrings, gibt Einblick in die gemeinsame Debatte und zeigt, welche Rolle Kultur für die Arbeit des Naturschutzes spielt.

 

Was tut der Deutsche Naturschutzring aktuell für mehr Nachhaltigkeit? Welche Rolle spielt dabei die Kultur für Ihre Arbeit?

Klimakrise, Artensterben, Corona – drei Krisen, die aus der Umwelt kommen und tief in die Gesellschaft eingedrungen sind. Die eine wie die andere Krise werden Spuren hinterlassen. Die Frage ist, ob wir es schaffen, gemeinsam und gestärkt aus den Krisen hervorzugehen.

Allein die Lösung der Klimakrise, die Schaffung einer klimaneutralen Gesellschaft bis 2045 wird bisherige Lebensmodelle verändern. Die zeitliche wie räumliche Dimension zeigt: Der Weg in die Klimaneutralität muss kurz sein – und er wird steinig. Zwar wird das Leben in der Klimaneutralität ein besseres, gesünderes und nachhaltigeres sein. Aber bis dahin werden uns Veränderungen erwarten. Bis hierher hat die Energiewende hinter der Steckdose stattgefunden: Kohle- und Atomstrom wurden gegen Wind- und Sonnenstrom ausgetauscht. Der Strom hingegen war der gleiche, unsere Lebensstile waren nicht betroffen. Die nächsten Schritte auf dem Weg in die Klimaneutralität werden aber konkrete Auswirkungen haben – bei uns zu Hause, in unserem Leben, auf unserer Arbeit.

Genau hier liegt unsere Rolle als Dachverband der Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbände: Während diese den Wandel mit großen Kampagnen und mit viel Geduld vorantreiben, knüpfen wir die Netzwerke zu Kirchen, Gewerkschaften, Jugendverbänden und zum Deutschen Kulturrat, um ein Gespür dafür zu entwickeln, wie weit Gesellschaft gehen muss und kann. Wir wollen keine faulen Kompromisse, sondern einen echten Interessenausgleich. Kultur und ihre Akteure haben immer wieder neue Lösungswege aufgezeigt, indem alte Denkmuster aufgebrochen und Freiräume für neue Möglichkeiten des Dialogs und Miteinanders geschaffen wurden. Die Kultur der Künste wie auch die Alltagskultur sind in der Lage, die Vielfalt unserer pluralen Gesellschaft abzubilden und Inklusion aller gesellschaftlichen Gruppen zu leisten. Diese Wirksamkeit braucht es auch in der Umweltpolitik. Wir benötigen eine Änderung der Kultur der politischen Debatte, wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Beschluss vom Frühjahr 2021 deutlich gemacht hat: Die Wahrung der Freiheitsrechte künftiger Generationen erfordert einen ehrlichen Interessenausgleich, der die notwendigen Maßnahmen für eine nachhaltigere Gesellschaft klar benennt.

 

Was kann der Kulturbereich vom Naturschutzbereich lernen, um mehr Nachhaltigkeit zu befördern?

Kultur ist ständiger Wandel, ist produktiv, ist Neues erschaffen und Altes bewahren. Ich glaube, dass es der Naturschutz ist, der hier sehr viel von der Kultur lernen kann – und muss. Ein Beispiel: Wir haben in Jahrhunderten des Wirtschaftens, der Landwirtschaft, der Gründung von Gesellschaften und Städten aus unseren Naturlandschaften Kulturlandschaften gemacht. In ganz Mitteleuropa gibt es keine Urwälder mehr, wir leben heute sprichwörtlich im Anthropozän, der Menschenzeit. Nun steht genau diese Kulturlandschaft wieder vor einem Wandel. Schauen wir uns z. B. den Stopp der Klimakrise an. Dieser wird unsere Kulturlandschaften massiv verändern. Windräder und Solaranlagen werden bald nahezu überall zum Landschaftsbild dazugehören. Das ist eine Wahrheit, die man auch einmal aussprechen muss, vor der aber auch wir Naturschützer uns gerne einmal drücken.

Damit kommt uns eine besondere Verantwortung zu, diese Kulturlandschaften zu erhalten und behutsam zu entwickeln, um den anhaltenden Verlust der Artenvielfalt zu verhindern. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass wir Natur auch Natur sein lassen müssen. Zu einer zentralen Aufgabe im Naturschutz gehört also, dass wir Wildnisgebiete erhalten oder wieder herstellen und uns als Mensch bewusst aus den dynamischen, unberechenbaren Prozessen der Natur heraushalten.

Zur Wahrheit gehört, dass das eine Einladung sein kann, unsere Kultur im Naturschutz zu reflektieren. Naturschutz ist – meist – ein zutiefst konservatives Anliegen: Bewahren, was ist, und schaffen, was einmal war. Doch wenn es keine Naturlandschaft, sondern eine Kulturlandschaft ist, die wir schützen; wenn wir also eine Landschaft schützen, die wir selber geschaffen haben: Was bedeutet das dann für den Naturschutz? Was muss er bewahren, wo darf er Veränderungen zulassen und wo darf er aktiv gestalten? Welche Verantwortung haben wir, wenn diverse bedrohte Arten sich erst in diesen Kulturlandschaften ansiedeln konnten, für diese Arten?

Der notwendige Umbau unserer Energieversorgung hat zur Folge, dass sich unsere Kulturlandschaften verändern werden, was vielfach auf deutliche – kulturelle – Vorbehalte stößt. Hier können, wollen, müssen wir vom Kulturbereich lernen, um die Menschen auf diesem Weg mitzunehmen.

 

Was fordern Sie als Präsident des Deutschen Naturschutzringes für mehr kulturelle Nachhaltigkeit jetzt von der Politik?

So wie Nachhaltigkeit sich durch alle Bereiche unseres Lebens zieht, prägt auch die Kultur all unsere Lebensbereiche. Eine erfolgreiche Umgestaltung zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft ist ein industriepolitisches, aber eben auch ein gesellschaftspolitisches Projekt. Beide Projekte sind ohne eine entsprechende kulturelle Begleitung nicht wandelbar. Ich erwarte von politischen Entscheidungsträgern daher die Erkenntnis, dass Transformation mehr ist als nur Industriepolitik. Ein Gesellschaftsvertrag braucht die kulturelle Dimension, um die Vielfalt unserer pluralen Gesellschaft erfassen, abbilden und die Inklusion marginalisierter Gruppen leisten zu können, damit wir tatsächlich sozial und ökologisch gerecht sowie nachhaltig werden.

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Kai Niebert ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR).
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