Schwarmästhetik

Insekten in der Kunst

Viele Insekten führen eine Existenz am Rande der Wahrnehmbarkeit. Ihre Mimikry oder Camouflage kann so perfekt sein, dass wir sie übersehen. Dennoch sind sie aus der Kunstgeschichte nicht wegzudenken.

 

Im Gegensatz zu anderen Tieren werden Insekten selten als Individuen verstanden. In der künstlerischen Darstellung handelt es sich zwar häufig um Einzeltiere, bei denen aber fast nie das Gesicht im Sinne eines Porträts fokussiert ist, sondern stets der gesamte Körper gezeigt wird. Dieser Körper hat Künstler immer schon fasziniert und zu schrecklich-schönen Darstellungen angeregt. Besonders wenn sie auf Menschenmaß vergrößert sind, machen Insekten Angst. Das mag daran liegen, dass Insekten dem Menschen trotz gemeinsamer Lebensräume fremd bleiben. Man gibt ihnen keine Namen, zähmt sie nicht und hat selten eine „persönliche“ Beziehung zu ihnen. Andererseits koexistieren die Gliederfüßer eng mit Menschen, essen dieselbe Nahrung, haben sich perfekt an urbane Räume adaptiert. Während Menschen entweder phobisch oder fasziniert auf Insekten reagieren, sind diese von ihnen scheinbar unberührt. Allerdings betrachten sie die Menschen zuweilen als Beutetiere: Moskitos saugen unser Blut, solange wir leben, Käfer fressen unsere Leichen. Schönheit und Hässlichkeit liegen also dicht beieinander, genauso wie die Dichotomie von Schädling oder Wunder.

 

So kommen die Kerbtiere in der bildenden Kunst vieler Kulturen und Epochen als Symbole von Glück, Fruchtbarkeit oder Tod vor. Abbildungen von Insekten fungieren als apotropäisches Zeichen, stehen für die menschliche Seele, für Dämonen oder Gottheiten. Dieses breite Spektrum verdeutlicht bereits die Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt von so unterschiedlichen Tieren wie Bienen, Heuschrecken oder Mistkäfern. Von dem Insekt im Generalsingular zu sprechen – mit mehr als einer Million beschriebenen Arten die artenreichste Tierklasse überhaupt –, macht wenig Sinn.

 

Insekten sind schon materiell eng mit der Kunstproduktion verbunden. So werden eine Reihe von Pigmenten aus Insekten hergestellt. Aber auch die Seidengewinnung durch die Raupen des Seidenspinners ist für einige Formen der Malerei essenziell. Doch nicht nur als Material, sondern vor allem als Motiv spielen Insekten eine große Rolle. Die älteste europäische Insektendarstellung ist wahrscheinlich die lebensgroße Tertiärkohlenplastik eines Totengräberkäfers, die wohl vor etwa 30.000 Jahren angefertigt wurde. Etwa 10.000 Jahre jünger sind Ritzzeichnungen von Insekten auf Bisonknochen in der Jungsteinzeit. In etwa zeitgleich entstandenen Felsenzeichnungen in Südafrika wurden vor allem Bienen und Heuschrecken dargestellt. Und Repräsentationen von schwärmenden Bienen und Imkern bei der Arbeit belegen die Bienenhaltung in Altägypten um etwa 2.600 vor Christus.

 

Nur wenige Arten sind eindeutig positiv oder negativ konnotiert. Die Biene und der Schmetterling sind meist Symbole für „gute“ Eigenschaften, während Heuschrecken, Flöhe, Läuse, Kakerlaken eher für das Schlechte in der Welt stehen.

 

Der Skarabäus wurde in Ägypten verehrt, seine plastischen Darstellungen waren dort als Grabbeigaben üblich. Da dieser Käfer Leichen auffrisst, wird er einerseits mit Schmutz, Tod und Verfall in Verbindung gebracht, gilt aber auch als heiliges Tier. Die Ägypter sahen eine Parallele im Dungrollen des Käfers und dem Lauf der Sonne von Osten nach Westen. Bemerkenswert ist auch, dass die Hieroglyphe, die den Skarabäus bezeichnet, für Schöpfung, Werden und Entstehen steht.

 

Im Mittelalter wird der Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen weltlichen Versuchungen und Gottesfürchtigkeit an Skulpturen wie beispielsweise der des Fürsten der Welt am Straßburger Münster, um 1280, oder der der Frau Welt am Wormser Dom, nach 1298, mit Hilfe von Insekten verdeutlicht. Deren Verbindung mit dem Teufel wird nur in der wurmzerfressenen Rückenansicht deutlich, an der sich Insekten aller Art zu schaffen machen. Durch solche Darstellungen sollte Furcht in denjenigen hervorgerufen werden, die an Gott zweifelten.

 

Eine ähnliche Funktion hat das Matthias Grünewald zugeschriebene Gemälde „Totes Liebespaar“ von um 1480. Man sieht Schlangen und Frösche, aber auch Fliegen und Käfer, die die Körper auffressen. Die gemalten Insekten sind die Boten des Teufels, die die Bestrafung einer sündhaften Verbindung symbolisieren.

 

Insekten sind, wie die Pest verbreitenden Flöhe oder die Ernte vernichtenden Heuschrecken, oft Symbole für Zerstörung und Verdammnis. Im christlichen Umfeld verkörpert die Heuschrecke eine der sieben Plagen der Menschheit und wird in der bildlichen Darstellung mit Krieg und Pest gleichgestellt. Aber auch in anderen Kulturkreisen wird sie häufig mit Gewalt und Tod in Zusammenhang gebracht. Das Keilschriftzeichen für Heuschrecke bedeutet allerdings nicht nur Vernichtung, sondern interessanterweise auch „Bildnis“.

Insekten sind auch mit grundsätzlichen Fragen der Kunsttheorie verbunden worden. Von Vasari stammt die bekannte Anekdote zum Malerwettstreit, nach der Giotto als Knabe einer Figur seines Meisters Cimabue eine Fliege so natürlich auf die Nase gemalt hatte, dass Cimabue sie mit der Hand fortzuscheuchen versuchte. Die illusionistisch gemalte Fliege markiert hier den Aufbruch zur Kunstauffassung der Renaissance, die die realistische Naturdarstellung als zentrales Ziel setzt, und ist damit Symbol für die malerische Fortschrittlichkeit Giottos im Vergleich zum eher mittelalterlich-traditionellen Cimabue.

 

In der Kunsttheorie der Renaissance galt die Grille unter anderem als Synonym für eine originellen Einfall. „Grillenhafte“ Kreativität kann dabei genauso als Beleidigung für verschrobene Bildfindungen eines Bildhauers oder Malers gemeint sein wie als Lob für höchste künstlerische Erfindungsgabe.

 

Der um 1505 naturgetreu aquarellierte Hirschkäfer von Dürer, der auch in einer Reihe seiner Gemälde vorkommt, wird wegen des Namens und des Geweihs über den Umweg über den Hirsch mit Christus in Verbindung gebracht, so dass seine Darstellung in Bildern von Christi Geburt als Vordeutung auf die Passion lesbar ist.

Erst etwa 100 Jahre später überwiegt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse an den Insekten. Die ersten wichtigen entomologischen Monografien, die sowohl künstlerischen wie wissenschaftlichen Wert hatten, waren Ulisse Aldrovandis „De animalbus insectis libri septem“ von 1602 und Georg Hoefnagels Miniaturaquarelle für Rudolf II. Zur gleichen Zeit, um 1603, führte Roelandt Savery vermutlich als erster Maler Insekten in die Stillebenmalerei ein. In niederländischen und deutschen Stillleben des 17. Jahrhunderts von Jan Breughel oder Georg Flegel kriechen dann Fliegen schon in Scharen über Obst oder umschwärmen Motten und Schmetterlinge als Vanitassymbole das Licht. Ebenfalls bemerkenswert ist im 17. Jahrhundert Jean Goedardts Buch „Metamorphosis and historia naturalis“, 1662-1667, sowie Maria Sybilla Merians bedeutendstes Werk „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ von 1705, das auf ihrer Forschung während einer Studienreise nach Südamerika basiert.

 

Die Romantik wendet sich dann wieder einer stärker symbolisch besetzten Darstellung von Insekten zu. Caspar David Friedrich etwa lässt auf seinem 1823/24 entstandenen Gemälde von Ullrich von Huttens Grab einen Schmetterling als Symbol der unsterblichen Seele aus der Gruft aufsteigen. In der Malerei des Biedermeier ist es dann vor allem Carl Spitzwegs schrulliger Schmetterlingsfänger von 1840, der den vergeblichen Wunsch nach einem dauerhaften Festhalten des Glücks ironisieren mag.

 

J. J. Grandvilles sich menschlich verhaltende Insekten, sind durchaus gesellschaftskritisch-satirisch gemeint und sagen wohl mehr über den Menschen aus als über die dargestellten Tiere. Grandvilles Kunst kann dabei als Vorläufer des Surrealismus gesehen werden, der Kunstbewegung der Moderne, in der sich Künstler am intensivsten mit Insekten als Verkörperung von Wünschen, Trieben und Ängsten des Menschen beschäftigen. Die vermeintlich männermordende Gottesanbeterin als gleichzeitig lustvoll inszenierte wie angstbesetzte Chimäre wird beinahe so etwas wie das ikonische Tier des Surrealismus. Salvador Dali erhebt Ameisen zu Protagonisten seiner Malerei, Max Ernst kombiniert in seinen Collagen Insekten mit Menschenköpfen. Das Wunder der Verpuppung, der Metamorphose und der Mimikry wird in vielfältigen Bildideen, aber auch in kunsttheoretischen Abhandlungen von André Breton oder Roger Caillois umgesetzt und spiegelt eine surrealistische Grundhaltung und Bildstrategie.

 

Später im 20. Jahrhundert bauen Jean Dubuffets und, auf ganz andere Art, Damien Hirsts Arrangements mit Schmetterlingsflügeln auf die Wirkungsmacht der schillernden Farbigkeit und auf die Assoziationen zu Lebensfülle, aber auch Fragilität und Vergänglichkeit alles Organischen.

In der Gegenwartskunst werden Insekten nicht mehr nur als Material, Motiv oder Medium verstanden, sondern zunehmend auch als Mitarbeiter in künstlerischen Prozessen. Steven Kutcher etwa nutzt Käfer als lebende Pinsel, indem er deren Füße in Farbe taucht und sie dann über die Leinwand schickt. Auch Honigbienen sind durch ihre Produktion hexogonaler Wachswaben reizvolle Assistentinnen für menschliche Bildhauerinnen wie Bärbel Rothhaar, Hilary Berseth, Aganetha Dyck oder Ren Ri, die alle selbst Bienenvölker halten. Man könnte angesichts der vielfältigen Beispiele, die auf demselben Prinzip basieren – Bienen werden eingeladen, Objekte mit Waben zu überziehen –, bereits von einer neuen bieneninduzierten Kunstrichtung sprechen. Die Projekte rahmen die ästhetischen Qualitäten tierlicher Handlungs- und Wirkmacht zu, zielen aber auch darauf, ein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der gefährdeten Arten zu wecken und damit für den Verlust, den ein weiterer Rückgang von Biodiversität bedeuten würde. In solchen Gemeinschaftsprozessen wird nicht nur das Kunstobjekt transformiert, sondern auch der beteiligte Mensch neu situiert und seine Rolle im Schaffensprozess dezentriert. Die Künstler führen mit ihren Kunstwerken vor, dass es möglich ist, über den Abgrund des Nichtverstehens hinweg kreative Beziehungen zu Tieren einzugehen.

 

Auch Schmetterlinge sind beliebte Ko-Autoren: Joos van de Plas etwa stellt Schmetterlingsraupen bedrucktes Papier, bemalten Karton oder Plastikwerkstoffe zur Verfügung, mit denen sie dann ihre temporären Wohnstätten bauen. Mit den Raupen des Seidenspinners und deren Kokons beschäftigen sich besonders prominent Liang Shaoji und Neri Oxman, wobei neben ästhetischen und technologischen Fragestellungen zunehmend auch ökologische und ethische Diskurse eine Rolle spielen. So erkundet Neri Oxman nachhaltige Formen der Gewinnung von Seidenfäden, ohne dabei wie üblich die Kokons zu kochen und die Raupen zu töten.  Wahre Handlungsmacht entfalten aber vor allem die Schmetterlinge, die Kristina Buch als Teilnehmerin der documenta 13 für ihre Installation „The Lover“ in ihrem Atelier gezüchtet hat, um sie dann in einem eigens angelegten Hochbeet auszusetzen: Obwohl als lebendige Ausstellungsstücke konzipiert, konnten die freigelassenen Tiere aktiv ihrer künstlerischen Rahmung entfliehen. Künstlerische Arbeiten können auch Empathie mit Insekten hervorrufen: Das gelingt Chen Sheinberg mit seinem Kurzfilm „Convulsion“, 2010, eines auf dem Rücken liegenden, „schreienden“ Käfers, der Mitleid erregt.

 

Der Fokus in der Wahrnehmung von Insekten hat sich also heute verschoben. Mit Hilfe künstlerischer Mittel wird deutlich, wie alles Leben Teil eines miteinander verbundenen ausbalancierten Systems ist. Insekten stehen heute vor allem für die Fragilität, die Komplexität, das Verwobensein und den Wert des Lebens.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Jessica Ullrich
Jessica Ullrich ist Vertretungsprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der Kunstakademie Münster.
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