Schwarmästhetik

Insekten in der Kunst

Erst etwa 100 Jahre später überwiegt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse an den Insekten. Die ersten wichtigen entomologischen Monografien, die sowohl künstlerischen wie wissenschaftlichen Wert hatten, waren Ulisse Aldrovandis „De animalbus insectis libri septem“ von 1602 und Georg Hoefnagels Miniaturaquarelle für Rudolf II. Zur gleichen Zeit, um 1603, führte Roelandt Savery vermutlich als erster Maler Insekten in die Stillebenmalerei ein. In niederländischen und deutschen Stillleben des 17. Jahrhunderts von Jan Breughel oder Georg Flegel kriechen dann Fliegen schon in Scharen über Obst oder umschwärmen Motten und Schmetterlinge als Vanitassymbole das Licht. Ebenfalls bemerkenswert ist im 17. Jahrhundert Jean Goedardts Buch „Metamorphosis and historia naturalis“, 1662-1667, sowie Maria Sybilla Merians bedeutendstes Werk „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ von 1705, das auf ihrer Forschung während einer Studienreise nach Südamerika basiert.

 

Die Romantik wendet sich dann wieder einer stärker symbolisch besetzten Darstellung von Insekten zu. Caspar David Friedrich etwa lässt auf seinem 1823/24 entstandenen Gemälde von Ullrich von Huttens Grab einen Schmetterling als Symbol der unsterblichen Seele aus der Gruft aufsteigen. In der Malerei des Biedermeier ist es dann vor allem Carl Spitzwegs schrulliger Schmetterlingsfänger von 1840, der den vergeblichen Wunsch nach einem dauerhaften Festhalten des Glücks ironisieren mag.

 

J. J. Grandvilles sich menschlich verhaltende Insekten, sind durchaus gesellschaftskritisch-satirisch gemeint und sagen wohl mehr über den Menschen aus als über die dargestellten Tiere. Grandvilles Kunst kann dabei als Vorläufer des Surrealismus gesehen werden, der Kunstbewegung der Moderne, in der sich Künstler am intensivsten mit Insekten als Verkörperung von Wünschen, Trieben und Ängsten des Menschen beschäftigen. Die vermeintlich männermordende Gottesanbeterin als gleichzeitig lustvoll inszenierte wie angstbesetzte Chimäre wird beinahe so etwas wie das ikonische Tier des Surrealismus. Salvador Dali erhebt Ameisen zu Protagonisten seiner Malerei, Max Ernst kombiniert in seinen Collagen Insekten mit Menschenköpfen. Das Wunder der Verpuppung, der Metamorphose und der Mimikry wird in vielfältigen Bildideen, aber auch in kunsttheoretischen Abhandlungen von André Breton oder Roger Caillois umgesetzt und spiegelt eine surrealistische Grundhaltung und Bildstrategie.

 

Später im 20. Jahrhundert bauen Jean Dubuffets und, auf ganz andere Art, Damien Hirsts Arrangements mit Schmetterlingsflügeln auf die Wirkungsmacht der schillernden Farbigkeit und auf die Assoziationen zu Lebensfülle, aber auch Fragilität und Vergänglichkeit alles Organischen.

In der Gegenwartskunst werden Insekten nicht mehr nur als Material, Motiv oder Medium verstanden, sondern zunehmend auch als Mitarbeiter in künstlerischen Prozessen. Steven Kutcher etwa nutzt Käfer als lebende Pinsel, indem er deren Füße in Farbe taucht und sie dann über die Leinwand schickt. Auch Honigbienen sind durch ihre Produktion hexogonaler Wachswaben reizvolle Assistentinnen für menschliche Bildhauerinnen wie Bärbel Rothhaar, Hilary Berseth, Aganetha Dyck oder Ren Ri, die alle selbst Bienenvölker halten. Man könnte angesichts der vielfältigen Beispiele, die auf demselben Prinzip basieren – Bienen werden eingeladen, Objekte mit Waben zu überziehen –, bereits von einer neuen bieneninduzierten Kunstrichtung sprechen. Die Projekte rahmen die ästhetischen Qualitäten tierlicher Handlungs- und Wirkmacht zu, zielen aber auch darauf, ein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der gefährdeten Arten zu wecken und damit für den Verlust, den ein weiterer Rückgang von Biodiversität bedeuten würde. In solchen Gemeinschaftsprozessen wird nicht nur das Kunstobjekt transformiert, sondern auch der beteiligte Mensch neu situiert und seine Rolle im Schaffensprozess dezentriert. Die Künstler führen mit ihren Kunstwerken vor, dass es möglich ist, über den Abgrund des Nichtverstehens hinweg kreative Beziehungen zu Tieren einzugehen.

 

Auch Schmetterlinge sind beliebte Ko-Autoren: Joos van de Plas etwa stellt Schmetterlingsraupen bedrucktes Papier, bemalten Karton oder Plastikwerkstoffe zur Verfügung, mit denen sie dann ihre temporären Wohnstätten bauen. Mit den Raupen des Seidenspinners und deren Kokons beschäftigen sich besonders prominent Liang Shaoji und Neri Oxman, wobei neben ästhetischen und technologischen Fragestellungen zunehmend auch ökologische und ethische Diskurse eine Rolle spielen. So erkundet Neri Oxman nachhaltige Formen der Gewinnung von Seidenfäden, ohne dabei wie üblich die Kokons zu kochen und die Raupen zu töten.  Wahre Handlungsmacht entfalten aber vor allem die Schmetterlinge, die Kristina Buch als Teilnehmerin der documenta 13 für ihre Installation „The Lover“ in ihrem Atelier gezüchtet hat, um sie dann in einem eigens angelegten Hochbeet auszusetzen: Obwohl als lebendige Ausstellungsstücke konzipiert, konnten die freigelassenen Tiere aktiv ihrer künstlerischen Rahmung entfliehen. Künstlerische Arbeiten können auch Empathie mit Insekten hervorrufen: Das gelingt Chen Sheinberg mit seinem Kurzfilm „Convulsion“, 2010, eines auf dem Rücken liegenden, „schreienden“ Käfers, der Mitleid erregt.

 

Der Fokus in der Wahrnehmung von Insekten hat sich also heute verschoben. Mit Hilfe künstlerischer Mittel wird deutlich, wie alles Leben Teil eines miteinander verbundenen ausbalancierten Systems ist. Insekten stehen heute vor allem für die Fragilität, die Komplexität, das Verwobensein und den Wert des Lebens.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Jessica Ullrich
Jessica Ullrich ist Vertretungsprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der Kunstakademie Münster.
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