Ein neuer Vertrag

Kultur und Natur im Zeitalter des Menschen

Was passiert, wenn man Nachhaltigkeit ohne kulturellen Wandel denkt, sieht man im Öko-Vorzeigeland Deutschland sehr gut: Immer größere Autos verstopfen unsere Straßen, parken Fahrradwege zu und lassen den CO2-Ausstoß steigen. Daran ändert auch die aufstrebende Sharing-Ökonomie mit ihren schnittigen Smarts von Car2go und neuesten BMWs von DriveNow nichts. Denn statt den Autobesitzer zum „Sharer“ zu machen, verleiten sie die autolosen Fahrradfahrer dazu, doch auch ab und an mal wieder vom Rad ins Auto zu steigen. Unser ergrünender Konsum an Bio-Lebensmitteln und Fairtrade-Pullovern hat den Umsatz mit nachhaltigen Produkten 2015 um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr wachsen lassen. Dennoch stagnieren auch hier die CO2-Emissionen auf hohem Niveau. „Blackouts“ brauchen wir nicht zu fürchten, wenn der Ausstieg aus dem Kohle- und Atomstrom endlich da ist, weil wir bis dahin so viele neue Windräder, Solarzellen und Stromspeicher in die Landschaft gesetzt haben, dass Deutschland rundum erneuerbar geworden ist. Bisher heißt Nachhaltigkeit meist nach wie vor „höher, schneller, weiter“ – aber eben grüner.

 

Nachhaltigkeit an der Aufklärung gescheitert

 

Die Aufklärung war der Versuch einer Emanzipation des Menschen von der Natur. Fortschritt verhieß Kontrolle über die Natur und die Unwägbarkeiten des Lebens. In dieser Idee steckte die Hoffnung, die ungezähmte Natur mit möglichst viel Technik durch die kulturelle Vernunft zu ersetzen. Die große Hoffnung auf eine rational begründete Gesellschaft, wie sie Gottfried Wilhelm Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts beschrieb, grub sich tief in unserer Kultur ein. Es entstand ein Naturbild, in dem der Mensch der Gute und die Natur das Böse war. Francis Bacon gab dem Menschen die Aufgabe, die Natur zu besiegen, für René Descartes waren Entdeckungen siegreiche Schlachten gegen die Natur.

 

Das Problem dieses Weltbildes liegt in seiner Wirkung: Die großen Umweltkrisen der Gegenwart, vom Klimawandel über das Artensterben bis zur Überdüngung, sind im Kern das Ergebnis der falschen Entgegensetzung Mensch versus Natur und einem sehr optimistischen Technikglauben. Doch Nachhaltigkeit braucht mehr als Technik: Nachhaltigkeit braucht erneuerbare Energien, effiziente Technologien und eine Kultur des Denkens in Kreisläufen und Grenzen. Nur so wird ein gutes Leben auch langfristig möglich werden.

 

Kulturspuren überall

 

Dort, wo uns die Kultur zu viel geworden ist, hat die Natur wieder Einzug gehalten – zumindest das, was man für Natur hält: Immer größere Einkaufszentren versuchen ihre Besucher mit auf Fotowänden gedrucktem Urwald, aus Lautsprechern ertönenden Vogelstimmen und sonnengefluteten Kunst-Indoor-Gärten zu locken. Diese keimfreie, gefahrlose Natur mit künstlich zerstäubtem Fichtennadelextrakt ist es, die uns entspannt shoppen lassen soll. Spätestens hier wird deutlich, dass das Ideal der natürlichen Natur ein Luftschloss ist. Nicht nur in der Kunstnatur von Kaufhäusern, sondern überall, wo die menschliche Kultur ihre Spuren hinterlassen hat, ist die wilde Unberührtheit dahin. Heute sind diese menschlichen Kulturspuren in den tiefsten Tiefen der Meere, auf den höchsten Bergen und sogar im ewigen Eis zu finden.

 

Umgekehrt hält die Natur wieder Einzug im Alltag. Starkregen, verheerende Stürme und ein Jahrhundertsommer nach dem anderen zeigen uns mehr denn je, dass wir der Natur nicht entkommen werden. Wenn Wasser und Schlamm im Keller stehen, wird wieder klar, warum Menschen jahrtausendelang nicht in den Überflutungsgebieten von Flüssen gesiedelt haben.

 

Die Debatten um den Beginn der Epoche des Anthropozäns, der Menschenzeit, zeigen, dass der Mensch mit seinen Aktivitäten zu einem geologischen Faktor geworden ist: Seit Beginn der Industrialisierung haben wir so viele neuartige Mineralien in so kurzer Zeit in Umlauf gebracht, wie es die Natur in 2,4 Milliarden Jahren nicht geschafft hat; der Stickstoffeintrag in die Biosphäre durch künstliche Dünger ist in der Erdgeschichte ohne Beispiel und unsere Schiffe und Flugzeuge überschreiten artengeografische Barrieren und verändern den Lauf der Evolution. Diese Erkenntnisse heben den Dualismus zwischen Natur und Kultur auf.

 

Herausforderung für Umweltschützer

 

Hier hält das Anthropozän besonders für Umweltpolitiker, Umweltverbände und Ökologen eine kulturelle Herausforderung bereit: In der Regel insinuieren wir den Menschen als schlecht, als Störer der guten, unberührten, im Gleichgewicht befindlichen Natur. In einem Zeitalter, in dem wir Menschen als Leitfossil noch lebendig sind, hebt sich dieser Gegensatz auf: Unsere Kultur kann nicht von der Natur, sondern nur mit der Natur leben. Politik und Wirtschaft allein können unsere Integration in die Natur nicht gewährleisten. Was wir brauchen, ist eine neue Kultur des Umgangs miteinander – und mit der Natur. Diente der aus der Aufklärung entspringende Gesellschaftsvertrag dazu, die Konflikte zwischen den Akteuren der Gesellschaft zu lösen, so ist nun ein neuer Vertrag erforderlich, der auch unsere Beziehung zu unserer Umwelt regelt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2018.

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Kai Niebert ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR).
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