Narbe oder Schweißnaht?

Es braucht ein Kulturprogramm zur Förderung des ländlichen Raumes entlang des Grünen Bandes

Das Grüne Band ist voller Geschichten, die erzählt werden wollen: Ob es die Geschichte eines 14-jährigen Ornithologen ist, der aus Liebe zu seltenen Vogelarten die Idee des „Grünen Bands“ gebar, oder die Geschichte von politischer Lobbyarbeit von Naturschützern über Jahrzehnte und etliche Ländergrenzen hinweg, die nötig war, um zu schaffen, was das Grüne Band heute ist.

 

Der ehemalige Eiserne Vorhang zieht sich als grüner Streifen über 12.500 Kilometer Länge quer durch Europa. Über 40 Nationalparks und 3.200 Schutzgebiete umranden ihn. 23 europäische Länder schützen und hegen das Band. Es ist die Geschichte der Entwicklung prävalenter einzigartiger Artenvielfalt und somit unzähliger, miteinander verwobener Biotope.
Diese Leistung vom Bund Naturschutz, den „Todesstreifen als Zufluchtsort“ zu schützen und so viele Unterstützer dafür zu gewinnen, ist an sich schon beeindruckend genug – und doch ist das Grüne Band so viel mehr. Es ist Zeitzeuge und Mahnmal einer gemeinsam getrennten Vergangenheit, Zeugnis von Konflikt, dem Kalten Krieg und einer friedvollen Wiedervereinigung. Es birgt Geschichten von persönlicher Trennung und Verlust, von Flucht und Verlassen, von Schießbefehl und gefälschten Landkarten, von Liebe und Hass.

 

So vielfältig und wertvoll diese Geschichten sind, viele sind noch nicht erzählt worden, und schon jetzt verblasst dieser Teil unserer Geschichte für die heutige Generation – für die meisten ist die innerdeutsche Grenze nicht nur geografisch weit entfernt, sondern findet auch in ihrem Denken keine Realität und Relevanz. Ein neues Storytelling, das auch die heranwachsenden Generationen mit einbezieht, das sich neuer Medien und persönlich zugänglicher Interaktivität widmet, muss sich nun weiter entwickeln, um dem Verlust unseres gemeinsamen Gedächtnisses entgegenzuwirken und unser Kulturerbe zu erhalten.

 

Die Idee, lokale Kulturschaffende in diesen Prozess einzubeziehen, liegt auf der Hand. Die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Kulturrat und dem BUND, um eine Bewerbung des Grünen Bandes als UNESCO Natur- und Kulturerbe vorzubereiten, ist eine wunderbare Idee und bietet enormes Potenzial für die Kulturakteure entlang des Streifens.

 

Vor über 200 Jahren entdeckten die Romantiker das Fichtelgebirge – traditionell eine Grenzregion zwischen Ost und West. Zuallererst die Reiseberichte der Literaten, später die Lieder der Komponisten schufen die Grundlage für eine erste Welle von Tourismus und für ein breites Interesse an den Naturschätzen und dem Gesundheitspotenzial dieser Region.
Vielleicht ist es nun die richtige Zeit und Gelegenheit, unseren Ausdruck “Nation der Dichter und Denker“ auf ein neues Level zu heben und durch gezielte Ausschreibungen für Storytelling, durch Aufträge und Artist-in-Residency-Programme am Grünen Band das Interesse von Künstlerinnen und Kreativwirtschaftlern am einzigartigen Naturschatz und Kulturerbe wachzukitzeln.

 

Wer kann besser als Kreative und Künstler Geschichten neu interpretieren, neu erzählen, ob als Comicstrip oder Roman, als Fernsehserie oder Kinofilm, als Lied oder als Theaterstück, als interaktives Computer Game oder Virtual-Reality-Erfahrung? Kulturelle Projekte können Besucher und Anwohner aktiv beteiligen und dadurch das emotionale Erleben verstärken.

 

Ein Paradox: Einerseits will man die Geschichte vor Ort erlebbar machen, Menschen einladen, sich Todesstreifen und Grenztürme sowie unberührten Naturraum anzusehen – und gleichzeitig die Natur so wenig wie möglich beeinträchtigen. Auch der Plan eines behutsamen Besucherkonzepts trägt zur Komplexität der Aufgabe bei, die den Künstlern gestellt wird.

 

Bereits existierende kulturelle Höhepunkte, wie beispielsweise das Deutsch-Deutsche Museum in Mödlareuth, können hier als Informations- und Veranstaltungsorte fungieren, während viele Bereiche des Grünen Bands nur behutsam für Besucher erschlossen werden dürfen. Gerade deshalb nehmen digitale Medien eine wichtige Bedeutung ein: Sie können eine breitere, ortsungebundene Öffentlichkeit erreichen und verschiedene Altersgruppen auf unterschiedlichen emotionalen Ebenen ansprechen; gleichzeitig dafür werben, sich vor Ort die deutsch-deutsche Geschichte anzusehen.

 

Es gibt neben den regen Naturschützern auch lokale Initiativen, die sich der Bewahrung der Erinnerung, dem grenzübergreifenden Austausch und der Lokalhistorie verschrieben haben, die von der Zusammenarbeit mit Kreativen einen großen Nutzen haben könnten. Eine solche gemeinsame thematische Auseinandersetzung hätte neben der Content-Entwicklung von Inhalten auch den Nebeneffekt, dass Kulturschaffende von den erfahrenen Lobbyisten der Naturschützer lernen könnten, wie diese ihre Interessen vertreten, sich bundesweit vernetzen und Erfolge verbuchen.

 

Das Grüne Band in Deutschland befindet sich fast ausschließlich in ländlich peripheren Gebieten – oftmals die gleichen Gebiete, die mit negativen Bevölkerungsprognosen und mit demografischem Wandel kämpfen. Der Trend der letzten Jahre zeigt, dass Kreativschaffende sich mehr mit ländlichen Themen befassen, und es ist ein Zuzug bzw. Rückzug von urbanen Kreativen aufs Land zu beobachten. Eine positivere Wahrnehmung von Landleben wird durch die Erfahrungen durch die gegenwärtige Corona-Krise noch gestärkt werden. Die Kultur- und Kreativwirtschaft macht sich Home-office und ortsunabhängiges Arbeiten schon längst zum Vorteil – was viele andere nun auch für sich entdecken.

 

Durch ein sorgsam angelegtes und strategisches Kulturprogramm kann dies zum wichtigen wirtschaftlichen Impuls der ländlichen Entwicklung
für diese Regionen werden, was auch bei den Politikern Resonanz finden wird.

 

In unserer (Grenz-)Region Fichtelgebirge haben wir mit KÜKO, der Künstlerkolonie Fichtelgebirge, ein Netzwerk von über 130 regionalen Kultur- und Kreativschaffenden. Sie kommen aus allen zwölf Teilbranchen wie Design, Architektur, Musik, Medien, bildende Kunst und vielen mehr. Netzwerke aus der Kultur- und Kreativwirtschaft, so wie KÜKO, Kreative Sachsen und andere entlang des Grünen Bandes verfügen über relevantes lokales Wissen und Kontakte und werden sicherlich gerne zu Kooperationen bereit sein, um sich diesen wundervoll komplexen Themenstellungen der Erinnerungslandschaft Grünes Band, inspiriert von Kultur- und Naturgeschichte, zu widmen.

 

Es liegt also an der Wahrnehmung der Menschen und somit auch an den modernen Dichterinnen und Denkern – den Bloggern, den multimedialen Geschichtenerzählern und Reisenden –, ob das Grüne Band in Zukunft teilende Narbe oder verbindende Schweißnaht sein wird.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Sabine Gollner
Sabine Gollner ist Gründerin und 1. Vorsitzende der Künstlerkolonie Fichtelgebirge.
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