Das Engagement für Nachhaltigkeit ist für uns Architekten und Stadtplaner ebenso berufspolitisches Credo wie gesamtgesellschaftliche Verpflichtung. Gebäude, die Eigentümern und Nutzern optimal dienen und zugleich einen positiven Beitrag zur Gestaltung des für alle unausweichlich erlebbaren öffentlichen Raums darstellen, sollen der Beitrag unserer Profession zu den drei Säulen der Nachhaltigkeit sein – Ökologie, Ökonomie, Soziales. Dabei gilt es, die hohe Bedeutung der Baukultur zu unterstreichen, die den gleichen Rang haben sollte wie die anderen Dimensionen der Nachhaltigkeit. Denn nur wenige Güter werden für so langfristige Nutzung, so generationenübergreifend produziert, sind von so alltäglicher, elementarer Bedeutung und zugleich so in ihrer humanen und kulturellen Qualität bedroht wie Häuser und Städte.
Wir als Architekten und Stadtplaner wissen, dass die technische Performance eines Gebäudes, seine Nutzungsqualität, die Grundrisse und natürlich auch die gestalterische Qualität und seine Einbindung in die jeweilige städtische Umwelt, nicht voneinander zu trennen sind. Ein technisch perfektes Gebäude weist zugleich eine sehr gute energetische Bilanz auf und geht sparsam mit Rohstoffen um; eine gelungene Einordung in die Stadt achtet auf den Verbrauch von Fläche. Für uns Planer kommt aber immer der Aspekt der Schönheit hinzu, der Baukultur, durch den für uns erst das Streben nach Nachhaltigkeit der gebauten Umwelt vollständig wird. Von Baukultur können wir sprechen, wenn bautechnische Aspekte ebenso wie die gestalterische Qualität von Gebäuden gleichrangig betrachtet werden und diese Gebäude einen Beitrag zur Qualität der Stadt liefern.
In der Debatte über nachhaltiges Planen und Bauen stehen Ressourcenverbrauch und Ökologie im Vordergrund, während der Bedeutung von Gestaltung, von Ästhetik, von Maßstäblichkeit, überhaupt von Schönheit als Beitrag zur Nachhaltigkeit ein zu geringes Gewicht beigemessen wird. Ein Indiz dafür: Zu den sogenannten „Sustainable Development Goals“ (SDG) als Herzstück der Agenda 2030, die im September 2015 von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen beschlossen wurde, gehört als elftes der insgesamt 17 Entwicklungsziele „Nachhaltige Städte und Gemeinden (SDG 11) – Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten“. Der kulturelle Aspekt taucht aber nur in dem inhaltlich recht eingeschränkten Unterziel 11.4 auf: „Die Anstrengungen zum Schutz und zur Wahrung des Weltkultur- und -naturerbes verstärken“. Wo bleibt dabei der Aspekt der gegenwärtigen und weiter absehbaren gewaltigen Expansion der Städte und deren Gestaltung, für diese wie für die folgenden Generationen?
Wir sollten verstärkt darauf hinwirken, dass „Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ – um den Titel einer Tagungsreihe in Düsseldorf zu zitieren – ein mindestens so entscheidender Beitrag zur Nachhaltigkeit der Stadt ist wie Flächen-, Energie- und Ressourcenverbrauch. Diese Qualität kann durchaus definiert werden: zunächst durch die Gestalt der Gebäude selbst, also vor allem durch Proportion und Komposition, durch die Gesamtanmutung, Materialität und Detaillierung. Dann zählt das Innere: Die Qualität des Grundrisses und der Raumgestaltung, der Orientierung und der Raumbezüge sind nicht nur funktional, sondern auch schön, nicht nur heute – auch für die späteren Nutzer und damit nachhaltig. Weiterhin bewertet man das Gebäude im Hinblick auf seine Funktion und seine Umgebung – vor allem seine Maßstäblichkeit, seine Einbindung, die Umsetzung der funktionalen Aufgaben und, natürlich, seine Beständigkeit werden in die Betrachtung einbezogen. Von besonderer Bedeutung ist der städtebauliche Kontext. Niemand baut für sich allein, denn die Außenwände der Gebäude sind die Innenwände der städtischen Straßen und Plätze. Die Rückbesinnung auf die gestalterischen Qualitäten der Europäischen Stadt ist zugleich eine Wiederentdeckung von nachhaltigem, den nachfolgenden Generationen verpflichtetem Städtebau. Dies macht die „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“, angenommen anlässlich des informellen Ministertreffens zur Stadtentwicklung und zum territorialen Zusammenhalt in Leipzig am 24./25. Mai 2007, deutlich, die betont: „Baukultur ist in einem umfassenden Sinne zu verstehen, als Gesamtheit aller die Qualität des Planens und Bauens beeinflussenden kulturellen, ökonomischen, technischen, sozialen und ökologischen Aspekte.“
Architektur und Stadtplanung sind erst dann Umsetzung von Nachhaltigkeit, wenn Baukultur nicht nur Zusatz, sondern notwendiges Element von Nachhaltigkeit ist. Jeder Euro für ein schlechtes Gebäude ist nachhaltig verschwendetes Geld, egal ob der Mangel nun ein technischer oder ein gestalterischer ist. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, ohne oder gar gegen Baukultur zu planen und zu bauen – kein weitblickender Bauherr, keine Kommune sollte auf ästhetische Qualität verzichten, denn das hieße zugleich Verzicht auf Nachhaltigkeit. Die Gestaltqualität ist konsequenterweise unverzichtbares Kriterium bei der Beurteilung von Nachhaltigkeit. Es ist zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis bei Bauherren und Nutzern durchsetzt und damit auch Druck auf solche Investoren entsteht, die nur ein kurzfristiges Verwertungs- und Verkaufsinteresse haben.
Wenn wir Architekten früher mit Bauherren über höhere Qualität gesprochen haben, hatten wir oft kein übergreifendes Argument an der Hand, dass sich Baukultur gesellschaftlich und zukunftsorientiert lohnt. Die Einbeziehung in den Diskurs der Nachhaltigkeit macht das Thema Bauqualität allgemeingültiger, transparenter und für Bauherren wie Kommunen für ihre Entscheidungen verpflichtender. Auf dem Weg zu vielseitig nutzbaren und energieeffizienten Gebäuden, die einen Beitrag zu einer schöneren und lebenswerteren baulichen Umgebung leisten, erscheint uns dies im Zeitalter der Ökonomisierung die geeignete Argumentation für Nachhaltigkeit, die sich ihres kulturellen Elements bewusst ist. Baukultur ist nicht alles, aber Planen und Bauen ohne Baukultur verfehlt Nachhaltigkeit.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2018.