Modekultur als revolutionäre Treiberin?

Mode als Symbol gesellschaftlicher Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Ist Modekultur eine revolutionäre Treiberin? Ja – durch ein ganzes Jahrhundert hindurch – dem letzten, dem 20. Jahrhundert. Davor entwickelten sich Gesellschaften und ihr Abbild in der Modekultur allmählich im Jahrhundertrhythmus, sozusagen epochal. Ab 1900 spiegelte und zeigte Modekultur alle zehn Jahre gesellschaftliche Eruptionen. Bürgerinnen und Bürger übernahmen das Sagen. Diktate „von oben“ verblassten im neuen Denken demokratischer Prozesse „von unten“ – bis heute. Veränderungen sind immer zuerst an Persönlichkeiten deutlich geworden, die den Mut hatten, die Wandlung – für alle sichtbar – nach vorne zu treiben. So machte sich die Wut, als Frau jahrhundertelang in ein systemisches Korsett gezwungen zu sein, Luft, – im Wegwerfen eben desselben – sehr konkret.

 

Coco Chanel betrat um 1900 die europäische Bühne und befreite uns Frauen ab 1910 mit der Gründung ihrer Firma Chanel von getragenen Traditionen und Diktaten. Die Frau als Püppchen, als Törtchen, als Dekoration erfolgreicher Männer, mit ausladendem Cul-Hinterteil, zugespitzter Taille und ausgestelltem Busen. Das Symbol dieser Haltung, das Korsett, verschwand durch sie in Europa endgültig und machte Platz für funktionale praktische Bekleidung, – eine Sensation – nach Jahrhunderten der Verspieltheit, der Dekoration, der Ornamentik. Und: Frauen zogen Hosen an, bis dahin rein männliches – ich habe das Sagen – Attribut! Was Wunder, dass gleichzeitig in der Architektur, dem Handwerk und dem beginnenden Industriedesign das Bauhausdenken und -handeln entstand: alle Lebensbereiche neu denken – bis heute. Selbst der Erste Weltkrieg konnte den Willen zur Befreiung aus Zwängen nicht aufhalten.

 

Die berühmten 1920er Jahre kürzten rigoros die Rocksäume und gipfelten in wippenden Fransen und neuen frivolen Tänzen. Der optische Inbegriff der weiblichen Figur, Busen und Taille, verschwanden in geraden, figurumspielenden Schnitten. Priorität war: Ich zeige, wie ich fühle und nicht, was ich habe. Frauen wie Josephine Baker hatten ihre großartigen Debüts. Ein Frauen-Jahrhundert begann? Ja!

 

Marlene Dietrich machte in den 1930er Jahren die bisher Männern vorbehaltene Hosen-Jacken-Bekleidung salonfähig: Anerkannt als großartige Sängerin, war sie die erste „öffentliche“ Frau, die Männerattitüden elegant und charmant nicht nur imitierte, sondern trug. Sie rauchte, trank und schnitt sich ihre Haarpracht kurz nach männlichen Vorbildern. Mit ihrer rauchigen Stimme begeisterte sie auch die Männerwelt. „Man“ verzieh ihr den optischen Affront und so konnte sich die Spiegelung des männlichen Gebarens durchsetzen und gipfelte im Jackett, im Blazer – dem Inbegriff des männlichen Business – für die Frau. Die Business-Emanzipation der Frauen war geboren. Der Zweite Weltkrieg bremste zunächst weitere Entwicklungen aus. Dennoch: Die 1940er Jahre waren nicht von ungefähr geprägt von den ersten breiten Schultern durch Polsterbetonung für Frauen und freien Armen: Sie mussten im und nach dem Zweiten Weltkrieg anpacken, zupacken und aufbauen. Zwar griffen sie auch auf sicheres Terrain zurück mit Betonung der Taille und weiten schwingenden Röcken, jedoch blieb das Bein bis zur Mitte der Wade frei. Gleichzeitig erfand DuPont – über den Siegeszug der Chemie – den Nylonstrumpf, erotisches Symbol gezeigter Haut am Bein. 19 Jahrhunderte tabu – jetzt befreit und millionenhaft gekauft und getragen. Audrey Hepburn ist die Protagonistin für diese Zeit: sensibel, durchsetzungsfähig, weiblich – jedoch eigenwillig und eigenagierend, materialisiert in der Mode eines Christian Dior.

 

Jetzt ging es Schlag auf Schlag: In den 1950er Jahren ging die kontinuierliche Kürzung der Röcke weiter – Statement für eigene Entscheidungen. Aufbau und Wirtschaftswunder folgten. Auf der einen Seite ging es zurück ins betont Bürgerliche, sittsam und aufstrebend, angepasst mit Anzug und Krawatte; auf der anderen Seite sich befreiend von Zwängen über die Musik eines Elvis Presley und die Mode des Rock ’n’ Roll – leidenschaftlich deutlich exaltiert und hemmungslos. Bis zum Knie ließen Frauen kokett ihre Haut sehen, verstärkt durch den Schwung der Petticoats darunter, die mehr als ein Ahnen zuließen.

 

Haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts allein Frauen Veränderungen bewirkt, visualisiert und materialisiert, treten sie in den 1950er Jahren wieder hinter ihre Männer zurück. Wer kennt bitte Wanda Jackson, die wie Elvis die Rock-Landschaft bestimmte? Da konnten auch die Plateauschuhe nicht dagegen ankommen, die Frauen um bis zu zehn Zentimeter größer aussehen ließen. Dann eine Sensation aus dem konservativ betonten England: Mary Quant wagt in den 1960er Jahren den Minirock. Er wird Symbol der sexuellen Revolution. Das Model Twiggy macht ihn weltbekannt. Weg mit Konventionen und ungeschriebenen Gesetzen. Männer und Frauen begegnen sich frei und frei von monogamen Regeln und Keuschheit bis zur Ehe. Beidseitiges ausprobieren, erkunden, erfahren. Alice Schwarzer macht sich auf den Weg für die Emanzipation der Frau und wird mit „Emma“ zur wichtigsten Geschichtsfigur für den Kampf um Gleichberechtigung. Gleichzeitig wird ein Aufbegehren gegen Business und dem leistungsgetriebenen und ehrgeizigen Wohlstandsstreben des Establishments laut. Eine Revolte bis hinein in die Politik erschüttert die 1968er Jahre. Rudi Dutschke – der politisch gekreuzigte, erschossene Protagonist. Eine zerrissene Generation, zerrieben zwischen Erfolgsdruck und Verweigerung. Was Wunder, dass sich dies in zerrissenen Jeans, in wilden Frisuren und löchrigen Oberteilen ausdrückte. Nichts mehr ist, wie es war.

 

Das führt in den 1970er Jahren mitten hinein in die Proteste gegen Kriege – wie der 20-jährige in Vietnam – und für Love and Peace. Weg von Streitereien um des Disputs willen, weg von Prestigedenken, von Machtgebaren und von reinem Profitdenken. Weg von Kriegen hin zu Frieden. Die Skater-Szene erfand sich neu mit Streetwear: ein Siegeszug der Jeans und Turnschuhe auf der Straße und bis ins Theater – bis heute gültig – gegen Schlips und Business-Uniform. Protagonist wurde Joschka Fischer mit seinem Turnschuh-Auftritt im Parlament.

 

Erfahrungen werden in allen Erdteilen gesammelt. Das Yin Yang der chinesischen, das Yoga der indischen und das Ursprüngliche der afrikanischen Kultur werden vor Ort erfahren und visualisieren sich augenblicklich in den Erscheinungsbildern der Mode. Muster, Darstellungen, Materialien und Stile werden übernommen und integriert. Die Hippies sind geboren. Lange Haare – auch für Männer – bunt, vielfältig, auffallend provokant. Ausstieg aus der Businesswelt und Einstieg in Lebensformen, die zu sich selbst führen, die die Innenwelt und das Miteinander von Menschen betonen.

 

Weg vom Establishment mit den Beat­les und dem Punk der Vivienne Westwood. Sie verweigert sich dem klein- und großkarierten Denken ihres konservativen, Traditionen huldigenden Landes. Bis heute ist sie sich treu geblieben und schwimmt gegen den Strom, altersunabhängig, jung geblieben, auch mit 80 Jahren.

 

Und: Die eigene Umwelt wird von einer ganzen Generation kritisch beachtet. Die Ausbeutung der Naturressourcen und Verachtung der Menschenrechte wird zum ersten Mal bewusst angegangen: Greenpeace entsteht. Eine mächtige Welle, die bis heute besteht und eingemündet ist in das Jahrhundert-Thema der Nachhaltigkeit.

 

Es wird der Industrialisierung und Einebnung des Individuellen zum Trotz in Vorlesungen gehäkelt und gestrickt. Schneidereien werden wieder besucht und geachtet. Das Handwerk erhebt stolz sein Haupt. Im Homebereich werden Teppiche geknüpft, Makramee genießt ein Revival und Zimmerpflanzen kehren zurück in die Wohnungen. Es braucht keine Protagonisten mehr. Die Welle erfasst alle Bevölkerungsschichten und ist bis heute mehr als gültig.

 

Und noch eine eher stille Bewegung charakterisiert die von allen getragene Revolution der 1970er Jahre: die Hereinnahme von Fremdem aus aller Welt, wie eine Vorwegnahme weltweiter Migration. Spontanen Ausdruck finden wir wieder zuerst in der Mode. Alle Kulturen finden sich in einer Cross Culture. Auch diese Bewegung war und ist wie eine Vorübung auf die Migration, die weltweit durch Kriege und Armut immer stärker zu uns kommt und ihren ersten Integrationsausdruck in der Mode fand und findet.

 

Zurück in die 1980er Jahre: Das Männer-Business holt auf und zwingt Frauen, sich in der männerdominierten Führungsriege durchzusetzen. Überdimensionale Schulterbreiten mit Polsterstützen, strenge gerade Hosen und Jacken machen aus ihnen Ritterinnen, Kämpferinnen und Überleberinnen. Große auffallende Muster unterstreichen den Willen zum Aufstieg und zur Einnahme bisher männlicher Positionen. Die Quote hält Einzug in Firmen, Wirtschaft und Politik. Was für eine Anstrengung.

Ganz leise meldet sich in den 1990er Jahren Ernüchterung und die Erkenntnis: Warum imitieren wir unsere Männer, anstatt wir selbst zu sein und zu beweisen – ja leider immer noch mit Beweisführung –, dass wir dasselbe Können und Wissen haben mit der Befähigung zu führen. Vielleicht mit anderen Prioritäten? Mit einer anderen Haltung und einem anderen Stil? Dennoch mit demselben Ergebnis des Erfolges. Das Kleid kehrt zurück in die Modekultur. Ein weiches, weibliches Attribut bis zur Jahrtausendwende und hinein ins Jetzt mit Politikerinnen, wie Annalena Baerbock, Claudia Roth, Renate Schmidt. Es gilt nicht mehr „seinen Mann zu stehen“, sondern Frau zu sein und führend Lösungen zu finden.

 

Im Jahr 2000 geschieht Erstaunliches: Weltweit schicken Designerinnen und Designer ihre Männer in Kleidern auf den Laufsteg und seither sehen wir mutige Männer im Straßenbild, die schulterfreie Pullis tragen, gehäkelte Spitzenoberteile und Röcke. Wenn das kein Zeichen für Männeremanzipation ist! Weich sein dürfen, empathisch, zuhörend, unkriegerisch. Soziales Miteinander ist ihnen wichtiger als Erfolgszwang und ewiges Wachstum. Noch sind es wenige und noch entwickelt sich das Pflänzchen langsam. Frauen und Mannen auf der gleichen Ebene der Arbeit, der Liebe, des Zusammenseins, der Gefühle, ihrer Haltungen und ihres Verhaltens. Weil beide es so wollen. Ohne Kampf und ohne Machtgehabe. Und egal, wer welche Stärken und Schwächen mitbringt und welche Attribute in der Kleidung bevorzugt werden.

 

Wir haben noch 80 Jahre Zeit bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Auf zu den Ufern dieses neuen Verständnisses für ein Miteinander und für Konflikt-Lösungen an Stelle von Kriegen und Zerwürfnissen mit der Kraft des Tuns.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.

Mara Michel
Mara Michel ist Modedesignerin, Geschäftsführerin des VDMD, Netzwerk für Mode- und Textil-Designer sowie Vizepräsidentin des Deutschen Designtages.
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