Mode oder Kleidung

Was macht Modekultur aus?

Ehrlich gesagt, ich bin ein Modemuffel. Schon der Gang in ein Herrenbekleidungsgeschäft ist für mich eine Zumutung. Die Anprobe eine Qual und wenn ich in meinen Kleiderschrank schaue, sehe ich eine Reihe von Kleidungsstücken, die ich vermutlich deshalb gekauft habe, um das Geschäft schnell wieder verlassen zu können und die ich nie getragen habe. Verschwendung eigentlich. Meine Lieblingskleidungsstücke sind Cordhosen mit sehr viel Beinweite und graue Pullunder, ebenfalls am liebsten eine Nummer zu groß. Dass Menschen gerne Kleidung einkaufen gehen, stundenlang vor dem Spiegel ein Kleidungsstück nach dem anderen anprobieren und dann mit Tüten beladen nach Hause kommen, ist mir ein Rätsel. Jedoch das Phänomen, dass nur ein Bruchteil der im Kleiderschrank vorrätigen Bekleidung tatsächlich getragen wird, scheint nicht nur auf mich zuzutreffen, sondern weit verbreitet zu sein.

 

Doch ist Mode nicht gleich Bekleidung und Bekleidung noch lange keine Mode, wie der Schwerpunkt dieser Ausgabe von Politik & Kultur anschaulich zeigt. Mode ist schon immer mehr als der Schutz des Körpers vor Sonne, Wind und Regen. Sie ist immer schon ein Distinktionsmerkmal und in früheren Gesellschaften gab es klare Bekleidungsverbote oder -gebote. Die Rocklänge, das Tragen von Hosen, Farben, Uniformen, Kopfbedeckungen – Hut, Kopftuch oder Perücke – sind mehr als nur modische Erscheinungen. Sie waren in der Vergangenheit Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung. Sie sind bereits seit einigen Jahrzehnten Ausdruck von Individualität oder auch Religiösität – etwa, wenn muslimische oder jüdische Frauen ihr Haar bedecken und Kopftuch oder Perücke tragen.

 

Bekleidung oder besser die Bekleidungsindustrie ist auch ein Treiber der technologischen, industriellen Entwicklung und der weltwirtschaftlichen Verflechtungen. Zu denken ist etwa an Napoleons Kontinentalsperre gegenüber britischen Waren, die sich auch gegen die aufkommende britische Textilindustrie richtete. Zu erinnern ist an den Import von Sklavinnen und Sklaven aus Afrika auf die amerikanischen Baumwollfarmen und den amerikanischen Export von Baumwolle. In den Kontext gehört die Zerstörung der indischen Textilwirtschaft durch die Kolonialmacht Großbritannien. Die erste Spinnmaschine „Spinning Jenny“ war ein Meilenstein in der Industriegeschichte. Sie ermöglichte einen erheblichen Produktivitätsfortschritt beim Spinnen von Garn, sodass nur noch ein Spinner erforderlich war, um einen Weber mit Garn zu versorgen und nicht wie vorher ein halbes Dutzend. Die Wirkungen der industriellen Revolution waren im Textilwesen sehr früh zu studieren.

 

Heinrich Heine beschreibt im Weberlied (1844) das Elend der Weber und verbindet es mit dem politischen Aufruf nach Freiheit:

 

Im düstern Auge keine Träne,

Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:

Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch –

Wir weben, wir weben!

 

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten

In Winterskälte und Hungersnöten;

Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –

Wir weben, wir weben!

 

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,

Den unser Elend nicht konnte erweichen,

Der den letzten Groschen von uns erpreßt

Und uns wie Hunde erschießen läßt –

Wir weben, wir weben!

 

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

Wo nur gedeihen Schmach‘ und Schande,

Wo jede Blume früh geknickt

Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt –

Wir weben, wir weben!

 

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,

Wir weben emsig Tag und Nacht –

Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch,

Wir weben, wir weben!

 

Gerhart Hauptmann widmet sich in einem seiner bekanntesten Stücke „Die Weber“ (1892) dem schlesischen Weberaufstand von 1844. Die seinerzeit von den genannten Autoren wie auch anderen literarisch verarbeitete Armut der Weber steht exemplarisch für eine Literatur, die sich dem Elend der vorindustriellen und industriellen Arbeit widmet.

 

Die Textilindustrie und auch die Textilmaschinenindustrie waren ein bedeutender Treiber der industriellen Revolution. Noch heute gehört Deutschland zu den wichtigen Exporteuren von Textilmaschinen. Die Ablösung des Flachses durch die Baumwolle verstärkte die weltwirtschaftliche Verflechtung der Textilwirtschaft. Heute werden Textilien vielfach in Asien produziert und das im 19. Jahrhundert literarisch beschriebene Elend der Weber trifft heute auf Näherinnen in Asien zu. Unter ausbeuterischen Bedingungen fertigen sie Kleidung, die in den Industrienationen für wenig Geld verkauft oder aufgrund der Überproduktion ungetragen vernichtet wird. Oft wird die Billigkleidung nach wenigen Wäschen weggeworfen.

 

Ein Umdenken beginnt allerdings. Nachhaltigkeit gewinnt in der Textilwirtschaft an Bedeutung, das betrifft sowohl die Herstellung der Garne und Stoffe als auch die Produktion. Vieles ist noch zu tun, doch das Bewusstsein, dass jeder und jede einzelne durch sein oder ihr Kaufverhalten Einfluss auf die Produktion von Bekleidung nehmen kann, wächst. Zugleich wird wieder mehr Bekleidung in Europa produziert. Ehemalige Textilstandorte in verschiedenen europäischen Ländern werden durch neue Firmen, die sich dort ansiedeln, wieder belebt. In der Verzahnung von Ausbildung, Kreation und Fertigung – oftmals unter Nachhaltigkeitsaspekten – werden europäische Standorte für Qualität in der Bekleidung entwickelt. Dabei gewinnen kleinere Labels an Bedeutung. Hier sind Kreation und Fertigung oft eng miteinander verbunden. In kleineren Stückzahlen produziert, zielen sie nicht auf den großen Markt, sondern richten sich an spezielle Zielgruppen. Das Tragen dieser Bekleidung ist oft ein Ausdruck von Modebewusstsein. Dazu gehören auch Nischen wie inklusive Mode, die sich an modebewusste Männer und Frauen mit Beeinträchtigungen richtet.

 

Wie schon die industrielle Revolution die Produktion von Textilien und Bekleidung tiefgreifend veränderte, gilt dies gleichermaßen für die Digitalisierung heute. Die Herstellung von Bekleidung, deren Vertrieb und insbesondere der individuelle Verkauf haben sich tiefgreifend gewandelt. Gerade was den Einzelhandel mit Bekleidung betrifft, hat die Coronapandemie dem Online-Handel noch einmal einen erheblichen Schub verliehen, sodass manche Entwicklung vermutlich unumkehrbar ist.

Mode ist, wie gesagt, viel mehr als Bekleidung. Am Anfang der gesamten Wertschöpfungskette in der Mode- und Bekleidungsindustrie stehen die Designerinnen und Designer, die Modekünstler. Ihre Individualität und ihre Schöpferkraft findet in der Mode ihren Ausdruck – egal, ob Haute Couture, Prêt-à-porter oder Bekleidung „von der Stange“. Ohne ihre Inspiration hätten wir keine Mode, sondern nur Bekleidung und das wäre auf Dauer schon sehr langweilig.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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