Wir ziehen uns an – für unsere Berufe, fürs Ausgehen, für Sport, für Hobbys, für zu Hause, fürs Bett … und für jeden Anlass gibt es einen Code, der gesellschaftlichen Strömungen und Entwicklungen folgt, genannt Trend, aus dem Englischen von drehen, verändern, entwickeln. Was geschieht da, dass oft weltweit Codes gleichzeitig entstehen und von Mehrheiten für gegenseitiges Erkennen, für Kommunikation und Statements genutzt und getragen werden?
Ein kurzer Rückblick ist wichtig, um das Heute zu verstehen. Jahrhundertelang war der Modus, die Art und Weise der Bekleidung, sprich Mode von den Herrschenden diktiert: Kaiser, Könige, Fürsten und Grafen achteten streng darauf, dass ihre „Untertanen“ sich in den Bekleidungscodes deutlich von den ihren unterschieden. Pracht und Prunk als Zeichen der Macht. Schneider wurden in den Rang von Couturiers erhoben, kreierten und fertigten Unikate für die oberen Zehntausend. Höhepunkt: der Sonnenkönig Ludwig der XIV, der in Frankreich Mode kulturell in Szene setzte, mit dem Nachklang bis heute.
Nur allmählich bekamen die Handwerkszünfte und die Händler selbst Einfluss und Macht durch die Kraft ihres Könnens und schlussendlich über erarbeiteten Reichtum. Für Bürger und Bauern war selbstbestimmte Mode nicht erschwinglich. Ihre vorgeschriebene Kleidung musste lange halten und wurde Jahrzehnte lang ausgebessert und notfalls gewendet. Mit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert dreht sich das Rad. Industrielle Webstühle ersetzten die Handcraft und die mühsame und lange dauernde Fertigung von Stoffen. Immer schneller und günstiger konnte dank neuer Maschinen produziert werden.
Ein Aufbruchsignal für Bürgerinnen und Bürger, mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Zeichen der Zeit in sich aufzunehmen und die Mode, die Art und Weise, Codes auszusenden, selbst in die Hand zu nehmen.
Die Streetwear entstand, eine demokratische Mode von unten, von der Straße. Die industriell gefertigte Mode übernahm das Zepter. Zunächst waren es Künstler, Kunsthandwerker oder sogenannte Formgeber, die die Prototypen entwarfen, entwickelten und gestalteten.
Designer wurden sie erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts genannt. Designprodukte für alle entstanden – im Unterschied zu den Unikaten des Handwerks – durch die schnelle und immer günstiger werdende Vervielfältigung in der Produktindustrie.
Diktieren ab dieser Zeit Designerinnen und Designer den Modus, den Trend für Produkte des alltäglichen Bedarfs? Gestalten Ja, diktieren Nein.
Designerinnen und Designer vernetzen und fassen zusammen. Das Gespür für Zeitgeist, für Strömungen in der Gesellschaft ist ihnen in die Wiege gelegt. Mit feinen Antennen fühlen sie Haltungen und Verhalten von Menschen nach, analysieren sie und können diese – dank ihrer Begabung – visualisieren und in Produkten materialisieren.
Am schnellsten und direktesten geschieht dies am Körper selbst. Was du anziehst, outet dich und zieht Gleichgesinnte an.
So haben sich im 20. Jahrhundert vier sehr deutlich unterscheidbare Codes aus Haltungen der Gesellschaft entwickelt, auch Stilwelten genannt: puristisch, natürlich, kulturell und avantgardistisch individuell. Diese vier Stile hatten und haben politische Kraft und beinhalten langfristige Entwicklungen, Trends, die sich weitergetragen haben bis in das 21. Jahrhundert und immer noch Gültigkeit haben. Der Purismus als Haltung und im Produkt hat sich in Deutschland besonders stark entwickelt und gilt – mit 34 Prozent der Konsumenten deutlich sichtbar – bis heute. Beeinflusst von strengen Puritanern, Reformern, wie Martin Luther, Johannes Calvin und Jan Hus, entwickelte sich in unserem Land eine Ablehnung gegen das „sich schön machen“. Als oberflächlich, modisch, als Tand, als Chichi abgeurteilt, hält sich diese Einstellung leider bis heute und wird nicht als ästhetisches Moment, als Urbedürfnis und Ausdruck eines individuellen Lebensgefühls gesehen. Vielmehr hat sich die Ablehnung in extremer Schlichtheit festgemacht. Weglassen von jeglicher Schmückung und Verzierung, nach dem Motto „Weniger ist mehr“ und „Form folgt Funktion“. Nicht von ungefähr hat sich die Bauhausoptik gerade bei uns hartnäckig festgesetzt, wenn nicht festgefahren. Der Grundgedanke des Bauhauses war grundlegende Veränderung. Raus aus barocken Schnörkeln, hin zum Einfachen. Weg von Männer-Machtdenken, hin zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. Weg von Privilegien einzelner, hin zu allen guttun. Heute muss sich der Erneuerung-Bauhausgedanke umkehren: weg vom reinen Kopfdenken, hin zur Kraft der Emotion, weg vom Quadratischen, hin zu körperlichen Rundformen. Weg von Wachstum, hin zur Zufriedenheit, weg von Aufrüstung, hin zu sinnvollen Streitparametern, hin zu einer erlernbaren Friedenskultur. Nicht kämpfen, sondern kommunizierend um Lösungen ringen.
Genau das passiert momentan in der Mode: Sie macht Haltungen und Gedanken laut und deutlich sichtbar, die auf ein sinnvolles Zusammenleben hinarbeiten. Sprache wird visualisiert und materialisiert. Statements werden bewusst eingesetzt. Mode als politisches Instrument, das sich über die sozialen Medien in zeitraffender Geschwindigkeit verbreitet und meinungsbildend wirkt.
Gegen Waffenmehrung – für sinnvolles und friedliches Zusammenleben, gegen Pelz – für liebevollen Umgang mit Tieren, gegen Ressourcen-Ausbeutung – für sinnvolle Nutzung und Betreuung unserer Umwelt, gegen Vergiftung der Natur – für ihre Unterstützung mit Respekt, gegen Diskriminierung – für Eigenbestimmung, gegen überholtes Profitdenken – für soziales Miteinander, gegen Missbrauch der Medien – für sinnvollen empathischen Umgang damit: immer mehr Designer-Labels liefern zu ihren Produkten die gesellschaftspolitische Botschaft mit. Das berühmteste Beispiel lieferte sicher 2017 Queen Elizabeth II. mit einem deutlichen Europasymbol auf ihrem Hut und in der blaugoldenen Farbauswahl ihres Outfits gegen den Brexit. Bleiben wir noch in England: Vivienne Westwood unterscheidet seit Jahren in ihren Entwürfen nicht mehr zwischen Männern und Frauen. Beide tragen romantische lange Kleider. Mode für androgyne Menschen. Ehemals Punkmode gegen das Establishment, jetzt Mode gegen festgefahrene Geschlechterrollen. Burberry mit seinem Designer Christopher Bailey widmete seine Herbst-Winter-Kollektion schon 2018 der LGBTQ-Community, in dem er deren Regenbogenfarben in allen Outfits implementierte. Alexandria Ocasio-Cortez, häufig bei ihren Initialen AOC genannt, Kongressabgeordnete in den USA, ließ auf das Rückenteil ihrer Abendrobe beim Auftritt in der Met Gala 2022 Rot auf Weiß schreiben: „Tax the Rich“. Auch die High-Fashion-Labels beziehen Position. So spendete Gucci 500.000 US-Dollar für die Organisatoren der amerikanischen Anti-Waffen-Demonstration „March for Our Lives“ und bringt keinen Echtpelz mehr auf den Laufsteg. Ebenso verwenden Michael Kors, Versace und Fendi nur noch Faux Fur, Kunstpelz. Prabal Gurung aus New York schrieb auf die T-Shirts seiner Models feministische Statements. In Mailand zog Angela Missoni ihren Models pinkfarbene Pussy-Hats auf und hob damit die Bewegung der „Women’s March“-Demonstrationen in weltweite Sichtbarkeit: gegen Rassismus und für Frauenrechte. Das Jeans-Label Diesel wählte für eine Mode-Kollektion-Kampagne den Slogan „Make Love, Not Walls“ aus, um auf die Mauer-Pläne Trumps aufmerksam zu machen. Wenige Beispiele für eine große Bewegung, die positive und sinnvolle Einstellungen zum Leben aufzeigt und so den Anfang macht für Sichtbarkeit und Ausbau von Wegen, die weggehen vom Konkurrenzdenken, hin zum mit sich eins sein, zum Miteinander in Selbstbestimmung, weg vom Machtdenken hin zu Partnerschaften, zu respektvollem Miteinander, weg von Wissensanhäufung hin zu merkenswertem Wissen, weg vom Prestigedenken hin zum Genugdenken.
Verstärkt wird diese Entwicklung durch drei weitere Megatrend-Elemente: Die Entstehungszeit der Greenpeace-Bewegung in den 1970er Jahren setzte die erste Marke für das Jahrhundertthema der Nachhaltigkeit. Ebenfalls über 30 Prozent unserer Endkunden visualisieren bis heute mit ihrem Bekleidungsstil die heilende Einstellung zur Natur, zur Umwelt, zur Nachhaltigkeit, materialisiert über die Wahl der Stoffe, der Farben, der Auswahl von Dessinierungen und über wissen wollen, wo und wie produziert wird. Und es werden mehr, die die Kleidermüllberge anprangern. Warum Abermillionen Tonnen produzieren, um dann dieselben Tonnen wegzuwerfen. Ein Arte-Film über Chile zeigt diesen Missstand drastisch auf. Stattdessen kurze Wege, ungiftige Materialien, vernünftige Löhne und nur so viel produzieren, wie gewollt und gebraucht wird.
Ein weiteres Element ist die Migration, seien es politisch bedingte Fluchtwellen zu uns, oder auch materiell bedingte Auswanderungen aus armen Ländern. Deutlich zeigt sich die Aufnahme fremder Impulse wieder als erstes in der Mode. Waren es vor der Migrationswelle fünf Designer, wie z. B. Etro, die daraus Cross-Culture-Kollektionen zeigten, indem sie Farben und Dessinierungen anderer Völkerkulturen aufnahmen, sind es jetzt zehnmal so viele.
Alle politischen Statements der Mode münden ein in Zukunftsdenken. Wie geht es weiter? Wie bewältigen wir unsere Konflikte und Krisen? Können wir mit Mode dazu beitragen, Missstände nicht nur aufzuzeigen, sondern auch in eine lösungsorientierte Zukunft hineinzutragen? Ja, wir können. Die Avantgardisten in der Modekultur machen die ersten Schritte. Sie zeigen ein JA mit dem Optimismus einer lauten Farbigkeit. Sie zeigen ein JA mit striktem Einsatz nachhaltiger Stoffe und Lieferketten. Sie zeigen ein JA mit politischen Statements. Ja, sie sagen vermehrt JA zur Reduzierung des zwölfmonatlichem Rhythmus herausgeschossener unnötiger Kollektionen hin zu überlegtem Zeigen, was wir tragen wollen und welche Haltung wir unserem Gegenüber signalisieren wollen, von Mensch zu Mensch.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.