Vom Objekt zum Stream

Die Digitalisierung verändert das Verständnis von Kultur und Museen

Obwohl sich die Definition als immaterielles Kulturgut bei allen originär digitalen Werken wie bei der Netzkunst oder bei Computerspielen förmlich aufdrängt, ist es frappant festzustellen, dass digitale Technologien in musealen Kontexten vor allem als innovative Werkzeuge verstanden werden, mit denen man z. B. die Bewahrung und Zugänglichmachung von Kulturgütern verbessern oder die Erfahrungen und das Wissen, das sich in den ausgestellten Objekten repräsentiert, optimaler vermitteln kann. Mit dem Aufkommen der Science Center ab den 1970er Jahren, der Schule der »New Museology« um die Jahrtausendwende und den UNESCO-Erklärungen und -Programmen zum immateriellen Kulturgut ab den frühen 2000er Jahren hat sich der Fokus der Museen zwar zunehmend von der Sammlung und Ausstellung von Objekten hin zu Wissensvermittlung und Identifikationsangeboten durch Narrationen und Partizipationsmöglichkeiten verschoben. Doch wurde dieser Diskurs merkwürdig unberührt von den tiefen kulturellen Wandlungen geführt, die durch die Digitalisierung unserer gesamten Lebensbereiche verursacht werden. In diesem Artikel möchte ich anregen, die Verengung der Wahrnehmung und Nutzung von digitalen Technologien als Werkzeuge um die Frage zu erweitern, ob und in welcher Weise die Verbreitung der digitalen Technologien unser Kultur und damit auch unser Verständnis von Museen dem Grunde nach verändert. Gewinnen könnten wir dadurch ein besseres Verständnis der laufenden Bedeutungsverschiebung von den Objekten zu immateriellen Kulturgütern sowie sachdienliche Hinweise für die gerade laufende Neudefinition des Museumsbegriffes durch ICOM sowie für die regelmäßige Erweiterung der UNESCO-Liste für immaterielles Kulturgut.

 

Eine der üblichen Erklärungen für die Hinwendung zum immateriellen Kulturgut ist das zunehmende Bewusstsein über die eurozentrische Relativität unseres ursprünglichen musealen Ansatzes. Haben doch nicht alle Kulturen den gleichen Umfang an materieller Kultur ausgeprägt wie unsere. Bedenkt man jedoch, dass wir bereits seit Jahrzehnten zunehmend mehr Lebenszeit in virtuellen, auf digitale Technologien gestützten Umwelten verbringen, liegt die Annahme nahe, dass sich unser Weltbild aus diesem Grund zunehmend von einem materiellen hin zu einem virtuellen und damit immateriellen verschiebt.

 

Schauen wir uns zur Verdeutlichung das älteste und populärste digitale Medium, die Computerspiele, an, die eine Fortführung kultureller Traditionen wie beispielsweise Spiel, Theater, Film, Literatur oder bildender Kunst mit dem Einsatz digitaler Technologien darstellen. Und tatsächlich fällt auf, dass Computerspiele Werke sind, die außer ihren Schnittstellen zu den materiellen Usern keinen materiellen Bestand mehr haben. Sie sind weder fest noch bestimmt, sondern virtuell und ihrer Natur nach veränderbar.

 

Wurden in der Anfangszeit Computerspiele noch auf physikalischen Datenträgern vertrieben, überwiegt heute konsequenterweise die digitale Distribution, wobei der Trend zu reinen Streams geht, deren Produktion nicht mehr auf lokalen Clients, sondern in der lokal unbestimmten Cloud erfolgt. Damit repräsentieren Computerspiele als Brückenmedium zwischen der analog und digital basierten Kultur eine wesentliche Eigenschaft digitaler Technologien: Durch Virtualisierung, die nichts anderes als Entmaterialisierung ist, machen sie die permanente Veränderung des Werkes möglich. Diese für ein Spiel – egal ob analog oder digital – natürliche Eigenschaft, bedeutet aber für unser Kulturverständnis gleich in zweierlei Hinsicht einen Paradigmenwechsel.

 

Einerseits stehen zunehmend Prozesse im Mittelpunkt unserer Beschäftigungen und Wertschöpfungsketten, während die Bedeutung von Objekten und materiellen Kulturgütern abzunehmen scheint. Da Prozesse grundsätzlich beeinflussbar sind, bieten sie die prinzipielle Möglichkeit der Partizipation und der Anpassung des Werkes an individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten. Das, was Computerspieleentwickler mehr oder weniger bewusst seit über vier Jahrzehnten als Kernaufgabe wahrnehmen, wird auch im Kulturbereich zunehmend als eine der zentralen Herausforderungen verstanden.

 

An die digitale Gestalt von Kultur knüpft sich jedoch noch eine weitere Veränderung an, die geneigt zu sein scheint, die zunehmende Bedeutung, die wir immaterieller Kultur beimessen, zu erklären. Denn in der digitalen Welt gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Original und Kopie, der auch heute noch grundlegend für unser europäisches Kulturverständnis ist. Ja, mehr noch: In einer Welt, in der Kultur vor allem als Stream und damit als Prozess erlebt wird, werden die Worte „Original“ und „Kopie“ tendenziell bedeutungslos. Während die „End User Licence Agreements“ (EULA) von Computerspielen schon immer darüber informierten, dass man nur begrenzte Nutzungs- und keine Besitzrechte an dem Werk erwarb, konnte man sich in ihrer Frühzeit durch das physische Vorhandensein eines Datenträgers, den ich wie ein Buch ins Regal stellen und benutzen kann, noch über die eigentliche Bedeutung dieser kulturellen Transformation hinwegtäuschen. Heute jedoch, wo der User oft nur noch ein Log-in hat, das ihm Zugang zu einer sich permanent verändernden virtuellen Welt irgendwo in der Cloud gibt, offenbart sich das eigentliche Wesen digitaler Kultur wie unter einem Brennglas. Digitale Kultur ist immer und überall verfügbar. Im Gegenzug geht die Möglichkeit, etwas zu besitzen, verloren. Ich bekomme nichts mehr in die Hand, von dem ich sagen kann, dass es mir gehört und über das ich Verfügungsgewalt jenseits des vorgesehenen Handlungsrahmens habe.

 

Andreas Lange
Andreas Lange ist Direktor des Computerspielemuseums in Berlin.
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