Serious Games, zu deutsch ernste Spiele: Was sind das denn? Katharina Tillmanns bringt im Gespräch mit Theresa Brüheim Licht ins Dunkel.
Theresa Brüheim: Frau Tillmanns, was sind Serious Games?
Katharina Tillmanns: Unter Serious Games kann man alle Spiele verstehen, also digitale, aber auch analoge Spiele, die sich nicht nur mit dem reinen Unterhaltungsfaktor beschäftigen, sondern die einen Realweltbezug haben. Das können zum einen Spiele sein, die ganz konkret Fähigkeiten trainieren – wie z. B. ein Planspiel, das Strategien übt. Das können aber auch Spiele sein, die Informationen vermitteln. Es können ebenso Spiele sein, die eine klare aktivistische Haltung vertreten.
Ich habe gelesen, dass die Intention von Serious Games ist, die Lücke zwischen Bildung und Anwendung von Wissen zu schließen. Stimmen Sie damit überein?
Da muss ich kurz ausholen: Die Qualität von Spielen, auch von digitalen Spielen, liegt darin, dass sie Systeme und Systematiken abbilden können. Das kann so kein anderes Medium. Im Grunde können andere Medien das Ganze nur bebildern oder beschreiben. Spiele können aber Systematiken zugänglich und Kausalitäten erlebbar machen. Darin liegt die große Kraft, um dann letztendlich neue Lern- und Wissenstransfermethodiken zu generieren und zu etablieren.
Können Sie ein Beispiel für ein Serious Game nennen, dem es wirklich sehr gut gelingt, diese Lücke zwischen Bildung und Anwendung zu schließen?
Ein sehr gutes Beispiel ist Dragon Box, das auf schulische Inhalte abzielt. Diese Spielreihe trainiert lineare Algebra. Als jemand, der an dem klassischen schulischen Mathematikunterricht an vielen Stellen stark gescheitert ist, kann ich sagen: Dieses Spiel schafft etwas. Auf einer persönlichen Mentoring-Basis – das Spiel kann nämlich da eingreifen, wo eigene Schwachstellen auftauchen – wird mit einer Metaphorik das Lösen von Gleichungen sehr spielerisch trainiert. Am Anfang sind die Spieler nicht mit Zahlen konfrontiert. Sondern mit Bildern, mit denen man die gleiche Systematik trainiert. Wenn man die Gleichung löst, bekommt man einen Stern. Wenn man sie aber schafft, auf dem kürzesten, elegantesten Weg aufzulösen, bekommt man drei Sterne. Das ist letztlich eine Methodik, die sich normaler Spiel- und Motivationstechniken bedient. Bei diesem Lernspiel ist Mathematik kein Angstturm mehr.
Spannend. Man sieht schulische Bildung ist ein Anwendungsbereich von Serious Games. Die kommen aber in den unterschiedlichsten Branchen vor, z. B. im Bereich Gesundheit, Erwachsenenbildung, Politik und Kultur. Was macht Serious Games für alle diese Branchen beliebt, die doch sehr unterschiedlich sind?
Das ist die Art und Weise, wie Spiele mit den Spielern kommunizieren. Die Kommunikation des Systems und die Auseinandersetzung der Spieler mit einem Thema, aber auch das Einsteigen, das Ausprobieren, das unterschiedliche Wege-Gehen, das Entscheidungen-Treffen innerhalb eines Spielgefüges sind Formen des Empowerments der Spieler. Das ruft bei dem Publikum etwas hervor, dass Serious Games für viele Branchen, nicht nur für die politische Richtung, attraktiv macht. Spiele sind eben anders als lineare Medien, die eher eine Zurücklehn-Haltung befördern – wie ein Film. Bei Spielen ist die Aktivität mitgegeben, Lösungswege im Spielprozess aufzuzeigen.
Es gibt einige sehr, sehr bekannte Computerspiele, die eigentlich fast jeder kennt – Super Mario, Tomb Raider. Gibt es die im Bereich Serious Games auch?
Im Bereich Serious Games gibt es natürlich etablierte Spiele, die immer wieder als Beispiele herangezogen werden. Ein Spiel, das bereits vor fast 15 Jahren herausgekommen ist, heißt „September 12th“. Die sehr kleine Spielmechanik setzt sich mit den Auswirkungen der kriegerischen Bekämpfung des Terrors auseinander. Es ist ein spielerisches Statement. In jüngster Zeit ist das Spiel „Papers, Please“ sehr beliebt geworden, das sich mit Grenzproblematiken beschäftigt: Wen lasse ich in mein Land und wen nicht? Und unter welchen Umständen? Was bedeutet das für die Gesellschaft in einem Land? All diese Dinge werden in diesem Spiel sehr plakativ nahegebracht, indem man in die Rolle eines Grenzbeamten schlüpft. Das regt stark zum Nachdenken an – auch zu kritischen Auseinandersetzungen mit der Botschaft des Spiels. Darum geht es letztlich auch den Machern von Spielen. Es soll nicht linear die Botschaft durchgeprügelt werden, sondern ein gutgemachtes politisches Spiel regt immer auch eine distanzierte Haltung der Spielenden an.
Unterscheiden sich Spieler von Serious Games von jenen klassischer Computerspiele?
Ich denke, dass es gewisse Schnittstellen gibt. Spieler, die mit Spielen großgeworden sind, haben ab einem bestimmten Alter das Gefühl, dass sie bestimmte Themen jetzt mehr ansprechen und es nicht nur beim typischen Abschalten beim Spielen bleibt, sondern sie suchen die Auseinandersetzung. Man kann die Analogie zum Dokumentarfilm ziehen: Nicht jeder guckt Dokumentarfilme. Sozusagen vermischt sich das reine Unterhaltungssegment nicht zu 100 Prozent mit Serious Games-Spielern.
Kommen wir nochmal zu den Anwendungsbereichen zurück. Mehr und mehr internationale Firmen rekrutieren ihre Mitarbeiter über Spiele oder bilden diese so weiter. Wie weit ist das in Deutschland verbreitet?
Man sieht immer mehr, dass nicht nur große, sondern auch kleinere Unternehmen Serious Games einsetzen. Das können kleine Lerneinheiten sein, die eher in die Richtung Gamification gehen, wo eine übergeordnete Motivation vor klassischen Lerninhalten steht. Das ist einfacher bzw. kostengünstiger umzusetzen. Größere Anwendungen, bei denen ein stark an die Firma angepasstes Spielkonzept stattfindet – wie ein Virtual Reality-Training beispielsweise in der Medizin am offenen Herzen, sind natürlich noch nicht so günstig, lohnen sich aber langfristig. Dabei kann eine höhere Arbeitssicherheit garantiert werden, weil man erstmal in der Virtualität trainiert.
Ein anderes bekanntes Beispiel sind Flugsimulatoren. Was sind die Vor- und Nachteile solcher Formen von Serious Games im Unternehmenskontext?
Wenn ein Unternehmen sich entscheidet, Serious Games gut geplant strategisch zu nutzen und diese Art von Medium in der Unternehmenskultur zu verankern, dann gibt es nur Vorteile. Es bringt natürlich nichts, Spiele den Mitarbeitern vorzuwerfen, die eher eine Hürde darin sehen, sich mit einem solchen Medium auseinanderzusetzen. Da ist natürlich gute Beratung seitens der Spieleentwickler vonnöten. Aber es gibt sehr niederschwellige Spiele und gute Tutorials, die helfen und auch motivieren. Dementsprechend würde ich sagen, es ist unbedingt von Vorteil, bestimmte Dinge als Spiel umzusetzen. Das gilt natürlich nicht für alle Lerninhalte. Man muss schon schauen, welche Inhalte sich eignen, sie systematisch im spielerischen Kontext zu vermitteln.
Andere Anwendungsbereiche sind Politik und Kultur. Zwei beispielhafte Spiele haben Sie bereits genannt. Welche weiteren Spiele sind Ihnen in dem Bereich bekannt?
Ein weiteres Beispiel ist der Titel „This War of Mine“. Das ist ein Spiel, das sich mit der zivilen Seite des Krieges auseinandersetzt. Es dreht die Rolle des klassischen Egoshooters um. Man spielt in einem sehr hochwertig produzierten Setting die Zivilgesellschaft, die im Krieg überleben muss. Sehr beeindruckend. Das Spiel ist auch eines der wenigen Serious Games, das ein hohes Budget hatte und sehr schnell schwarze Zahlen geschrieben hat. Serious Games sind nämlich bis vor etwa zwei Jahren überwiegend Auftragsarbeiten gewesen, bei denen es einen Geldgeber, aber kein zahlendes Publikum gab. Sie wurden dann meist kostenfrei zur Verfügung gestellt. Gerade bei gesellschaftskritischen Titeln waren das oft NGOs oder kulturelle Institutionen. Das ändert sich langsam, es entwickelt sich ein Markt für Serious Games. Das ist neu. Das liegt auch daran, dass diese Spiele auch dank geänderter Medienberichterstattung stärker in den Vordergrund gerückt sind.
Was sind allgemeiner Sinn und Zweck dieser politischen Spiele?
All diesen Spielen liegt inne, einen gewissen aufklärerischen Aspekt mit sich zu bringen. Andere Spiele trainieren den Perspektivwechsel oder evozieren sogar Verhaltensänderung. Das ist sozusagen die Krönung der Serious Games. Denn wenn es darum geht, gesellschaftlichen Wandel durch Spiele anzustoßen, dann umfasst die Expertise von Serious Game-Designern in Zukunft möglicherweise auch die von Verhaltenstherapeuten und Personal Coaches – eine spannende Mischung.
Auch eine explosive Mischung. Früher wurden Serious Games von Gamern belächelt. Ist das immer noch so?
Games egal welcher Gattung und welchen Genres sind wie jedes andere Medium immer eine Geschmacksfrage. Gut gemachte Serious Games stehen auch bekannteren Unterhaltungsspielen in nichts nach. Für die Zukunft gilt es, neue Marktsegmente zu entdecken, d. h., vor allem die Leute anzusprechen, die bisher wenig Kontakt mit Spielen hatten. Diese Leute wagen sich mehr und mehr über Themen, die ihnen relevant erscheinen, plötzlich an Spiele heran und begeben sich auf Entdeckungsreise. Das ist sozusagen das Publikum oder die Spielerschaft der Zukunft der Serious Games.
Sie sprechen von der Zukunft. Wo gehen die Trends im Bereich Serious Games hin?
Im Augenblick muss man natürlich ganz klar sagen, dass Augmented und Virtual Reality zwei sehr heiße Themen sind. Das ist auch nicht grundlos so. Es gibt zwar gerade einen starken Hype, aber vor allem im Bereich der Serious Games werden diese beiden Technologien sich langfristig etablieren. Denn Augmented Reality kann schon rein ästhetisch die Brücke zwischen Realität und Virtualität schlagen. Das heißt, wir haben Elemente aus der realen und aus der digitalen Welt, die sich überlagern. Somit können wir Transformationsprozesse aus einem Spiel leichter in die Realität übersetzen. Die virtuelle Realität wird extrem spannend, weil es ein sehr menschliches Medium ist, was man auf den ersten Blick nicht denkt, wenn man sich die technischen Apparate anschaut, die im Augenblick noch dahinterstehen. Langfristig wird das Interface wegfallen. Wir können uns in der virtuellen Realität dann so bewegen, wie wir uns in unserem Alltag bewegen, natürlich in einem kleinen, abgegrenzten Raum. Dann haben wir die Möglichkeiten, mit Dingen auf natürlichere Weise zu interagieren als mit einer Tastatur oder einem Joystick. Nämlich gestenbasiert. Wir können uns um Dinge herum bewegen und körperlich die Perspektive wechseln. Ich gucke dann nicht mehr auf einen eingerahmten Bildschirm, sondern ich gucke frei in einen Raum. Diese Aspekte führen dazu, dass ich als Spieleentwickler eine neue Wahrnehmung bei den Spielern freischalten kann. Da liegt das große Potenzial bei den Entwicklern, das auch auszunutzen und dem Ganzen Bedeutung zu geben.
Abschließend noch eine Frage: Wie beurteilen Sie die Bedeutung von Serious Games?
Serious Games sind die Motoren für die Zukunft des Mediums Virtual Reality im Besonderen, aber auch ein wichtiger Faktor, um zukunftsgewandt Spiele zu entwickeln. Man kann sich einiges bei den Spielen abgucken. Der Bereich hat auch großes Potenzial, gerade auch unser Lernen langfristig positiv zu beeinflussen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.