„Play to lose“

Über ein ungewöhnliches Spielkonzept bei Liverollenspiel-Inszenierungen

Wer wünscht sich nicht, erfolgreich zu sein, besser zu sein als andere und direkte Auseinandersetzungen zu gewinnen? Schließlich sind wir eine Gesellschaft im Wettbewerb – mit Rankingsystemen von Schulnoten bis Kontoständen und Belohnungen in Form von Luxusartikeln und anderen Annehmlichkeiten. Entsprechungen dieses Systems finden sich auch in der digitalen Spielewelt: Global vernetzt treten unsere interaktiven Spielfiguren im internationalen Vergleich in den Wettbewerb, um eine möglichst hohe Position in der Bestenliste einzunehmen, im direkten „Battle“ siegreich zu sein und dafür Items zu erhalten, die uns einen Vorteil in kommenden Auseinandersetzungen verschaffen. Ein Scheitern oder Verlieren ist in diesem Rahmen nicht erstrebenswert.

 

In den letzten 30 Jahren hat sich jedoch eine dramatische Inszenierungs- und Spielform entwickelt, welche unter anderem eine Experimentierbühne für gesellschaftliches Verhalten darstellt: das Liverollenspiel oder auch LARP (Live-Action-Role-Play). Längst den unbeholfenen Anfangstagen entwachsen, in denen ein paar pickelige Nerds die Abenteuer ihrer Fantasy-Helden nachspielten, hat sich LARP zu einer Spielform entwickelt, welche ästhetisch, konzeptionell und organisatorisch den Vergleich mit anderen kulturellen Erscheinungsformen nicht mehr zu scheuen braucht. Große LARP-Festivals wie das „Conquest of Mythodea“ locken jährlich mehr als 8.000 Besucher mit filmreifen Kostümen an, Veranstalter bieten Full-Service-LARPs inklusive Hotel, Rollen und Kostümen an. Deutschlandweite Bildungsträger wie der Waldritter e.V. setzen Bildungs-LARPs in ihrer täglichen politischen und kulturellen Arbeit ein. Kurzformen wie Mini-LARPs oder Drama Games halten Einzug in die non-formelle Seminararbeit. Nicht zuletzt durch seine flexible Struktur ist es, anders als bei kompetitiven Spielformen, im Liverollenspiel möglich, auch aus dem Scheitern der eigenen Figur einen Gewinn zu ziehen.

 

LARP ist eine innovative und interaktive Form des Darstellenden Spiels, bei dem es keine Zuschauer gibt. Die Teilnehmer werden Teil einer fiktiven Geschichte und beeinflussen durch ihre Handlungen und die Darstellung ihrer Rollen den Ablauf des Geschehens und kreieren auf diese Weise ihre eigene Geschichte. Jeder Einzelne wird so zum Zuschauer der Darstellung der anderen Teilnehmenden und selbst zum Darstellenden. Das gemeinsame Erschaffen einer für alle Beteiligten ansprechenden Erzählung, das Erfahren einer ganzheitlichen Selbstwirksamkeit sowie ein Flow-Erleben während des Spielens sind dabei zentrale Aspekte, welche das Spiel definieren. Die Rahmenbedingungen des Spiels werden dabei durch vorher vereinbarte Spielregeln und -vorgaben definiert.

 

Eine dieser Spielvorgaben lautet: „Play to lose“ – also das Spielen, um zu verlieren – und repräsentiert eine Spielphilosophie, welche die Spieler vom Druck befreit, gewinnen zu wollen und gleichzeitig einen Gewinn an Einsicht über sich selbst verspricht. „Play to lose“ stellt einen Gegenentwurf zur Darstellung klassischer Heldenfiguren dar, welche „das magische Schwert schwingen“, „die Welt retten“ und „allem Bösen trotzen“ – oder kurz: „gewinnen wollen“. Gleichzeitig entwirft es eine Figurenwirklichkeit, die dichter an eine Darstellerwirklichkeit anknüpft: vom Scheitern bedroht, in Abhängigkeiten gefangen und zögerlich, wie es weitergehen könnte – die Darstellung der Figuren also, die „verlieren“, während ein paar wenige „gewinnen“. Häufig konstruiert ein Setting, welches das „Play to lose“-Konzept verwendet, eine ausweglose Umgebung: die letzten Überlebenden der Zivilisation beispielsweise oder ein militärisches Himmelfahrtskommando. Die Figuren selbst sind in Dilemma-Situationen verstrickt, haben widersprüchliche Motivationen oder persönliche Geheimnisse: beispielsweise die Soldatin, welche den Befehl hat, rebellische Aufrührer zu erschießen, deren Anführer jedoch ihr eigener Bruder ist. Ein „Gewinnen“ ist hier keine Option. Ganz im Gegenteil sind die Darsteller angehalten, ihre Geheimnisse im Spiel zu offenbaren und sich ausweglosen Situationen auszusetzen. Es geht darum, eine Erlebniswelt zu schaffen, in der kulturelle oder gesellschaftliche Konventionen auf dem Prüfstand stehen, in der Darsteller mit Rollenbildern und Grenzbereichen der eigenen Darstellung experimentieren können – im sicheren Rahmen des Spiels, welches die Teilnehmer auch jederzeit verlassen können, wenn es nötig ist.

 

Der Gewinn dabei ist persönlicher Natur: das Erkennen und Ausloten eigener Emotionen, die Auseinandersetzung mit sich selbst durch die Darstellung einer Person, welche an ihren Herausforderungen scheitert oder wächst. Die Erkenntnis der Soldatin im Beispiel, dass ihre Loyalität der Familie gilt und sie die Rebellen verschont – auch in der Gefahr, dafür selbst bestraft zu werden.

 

Dieses „Spiel, um zu verlieren“ ermöglicht es also letztlich den Darstellern, intensive Szenen zu kreieren und durch die Erkenntnis und das Erleben, wie ihre Figur scheitert, persönlich zu wachsen und damit neue Handlungsoptionen oder Perspektiven zu gewinnen. Dies macht letztlich das Liverollenspiel auch zu einem wirkungsvollen Baustein in der Welt der Games und Spiele hinsichtlich seiner kulturellen und politischen Dimension.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.

Dennis Lange
Dennis Lange ist Game Designer und Bildungsreferent bei Waldritter e.V.
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