Kulturelle und politische Bildung: Kein Gegensatz, sondern Möglichkeit zu sinnvoller Ergänzung

Das Beispiel des Bundesarbeitskreises ARBEIT UND LEBEN

ARBEIT UND LEBEN ist eine Weiterbildungseinrichtung, die vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und dem Deutschen Volkshochschulverband (DVV) getragen ist. Mit 14 Landesverbänden und 120 Kreis- und örtlichen Arbeitsgemeinschaften ist die Organisation bundesweit präsent.
ARBEIT UND LEBEN ist eine Fachorganisation der politischen Bildung, die ihr Sujet, die politische Bildung, in einem weitgefassten Rahmen versteht. Ihre Bildungsangebote tragen dazu bei, dass sich die Arbeit und das Leben der Menschen nach den Kriterien von sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Solidarität mit dem Ziel einer demokratischen Kultur der Partizipation entwickeln können.

 

Daneben nimmt die internationale und Europa-Arbeit von ARBEIT UND LEBEN großen Raum ein. Ziel ist es hier, dass Europa von seinen Bürgerinnen und Bürgern nicht als unbeeinflussbare und anonyme Wirkungsmacht, sondern als Lebens -und Handlungsraum verstanden wird, in dem sie als mündige Menschen ihre Möglichkeiten aktiv nutzen können. Dazu bedarf es national wie international einer Bildung und Weiterbildung, die durch kritische Reflexion gesellschaftlicher, ökonomischer, soziokultureller und politischer Zustände zum Perspektivwechsel anregt, damit nicht Denkschienen verlegt, sondern Denkräume eröffnet werden, damit mittels Weiterbildung die Herausbildung reifer Mündigkeit, aber auch gemeinschaftsbezogener Identität freigesetzt werden können. Hierzu eignen sich in besonderer Weise Querschnittsthemen, die genauso als nationale wie als internationale Anliegen gelten können. Das sind Themen, die der Förderung von Chancengleichheit, Geschlechter-gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, kultureller Selbstbestimmung dienen, aber auch Themen, die sich der Toleranz, der universellen Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten und nicht zuletzt der kulturellen Vielfalt widmen.

 

Bildungsziele von ARBEIT UND LEBEN
Was die Bildungsziele von ARBEIT UND LEBEN und das Anliegen der kulturellen Bildung anbetrifft, so überschneiden sie sich im Entwicklungs- und Bildungsziel des „starken Subjekts“ und seiner positiven Haltung zum demokratischen Gemeinwohl. Wie die kulturelle Bildung zielt auch ARBEIT UND LEBEN auf die Entwicklung einer Disposition, die sich kreativ und produktiv auf das eigene Leben einlässt und dabei Leben und Wohlfahrt der Mitmenschen nicht ausspart. Immer geht es dabei um das Anregen von Neugierde und Offenheit, auch um Freude an sich und (nie zu vergessen) an den anderen.

 

Es geht letztlich also um Räume der reflektierten Selbstwirksamkeit als Orte demokratischen Lebens. Das gelingt besser, wenn man die Seminarform, so wichtig diese auch für die verbal-theoretische Wissensvermittlung bleibt, ein Stück weit überwindet und schöpferischen Lernprozessen Raum gibt, wenn es also gelingt die fünf Kategorien: Wissen, Gefühl, körperliches Empfinden, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit pädagogisch und didaktisch sinnvoll miteinander zu verbinden.

 

Ganz in diesem Sinne hat ARBEIT UND LEBEN schon kurz nach der Jahrtausendwende das Projekt „Lernfeld Erlebnis“ entwickelt. Dabei ging es nicht darum, Bildung als bloßes Event zu verkaufen, sondern darum, außergewöhnliche Erlebnisse in den Bildungsprozess als didaktisch-methodisches Element zu integrieren: Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte auf dem Schlachtfeld von Vimy, Fußball im Asylbewerberheim, Puppen nähen für „starke“ Männer, Kart fahren für vorsichtige Frauen, Radio, Video, Fotoapparat als Medien erleben und gestalten. Durch die Einbindung dieser Erlebnisse in den Lernprozess galt es produktive Irritationen zu erzeugen, die die beteiligten jungen Erwachsenen ermutigten, sich ihrer Ansichten und Haltungen bewusst zu werden, sie zu artikulieren und zu reflektieren. Dabei war die Selbsterfahrung in außergewöhnlichen Situationen das Medium, um eine neuen Stufe der Sensibilität für inhaltliche Aspekte gerade auch der politischen Weiterbildung zu erreichen.

 

Ein Stück weiter in den Bereich der Kultur reichte das Projekt „Heimat, Deine Sterne“, weil es durchgängig filmisch begleitet wurde und am Ende auch als Filmdokument (Regie Thierry Brühl) visibel war. Das Projekt richtete sich an Menschen unterschiedlichen Alters aus fünf strukturschwachen ländlichen Regionen der „neuen“ Bundesländer. Ziel war es, mit den Teilnehmenden über ihre Verbundenheit mit ihrer Region und ihr gesellschaftliches Engagement in den Austausch zu treten. Im Zentrum stand der kulturelle Begriff der „Heimat“, an dem neben der regionalen Verbundenheit auch die sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen der letzten Jahre aufgezeigt werden sollten. Über unterschiedliche Wege der Ansprache (persönlich, Vereine, Verbände, regionale Kooperationspartner etc.) waren verschiedene Generationen der Einheimischen in einen Dialog eingebunden, der sich mit der individuellen regionalen Verbundenheit auseinandersetzte. Durch die Kooperation mit öffentlichen Personen (VIPs) oder vor Ort engagierten Personen konnten Paten für das Projekt gewonnen werden. Politisch, sozial oder kulturell aktive Personen fungierten dabei als Brückenmenschen für diejenigen, die sonst kaum zu aktivieren gewesen wären. Die Teilnehmenden wurden darin begleitet, sich mit grundsätzlichen Fragen des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenlebens in ihren in der Regel von Verödung gefährdeten Regionen auseinanderzusetzen. Ziel war es, durch politische Bildung und filmisch dokumentierte Reflexion über den Begriff Heimat Gemeinschaftserlebnisse zu initiieren, die dabei helfen sollten, zur Wiederbelebung der örtlichen und regionalen Infrastrukturen, z.B. des Vereinswesens, beizutragen. In diesem Sinne entstand zur neu geweckten Identitätsbildung für jede der Regionen ein Kurzfilm unter Mitarbeit der Projektbeteiligten.

Kunst, besser gesagt eine Theaterperformance, war Fix- und Endpunkt des Projekts „Rede mit mir – Boarding Europa“. Partner waren im Jahre 2010, dem Kulturhauptstadt-Jahr des Ruhrgebiets, die Ruhrfestspiele Recklinghausen. Beteiligt waren junge Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und junge Erwachsene mit südosteuropäischem Migrationshintergrund aus Gelsenkirchen, Arnstadt und Görlitz; beteiligt waren daneben eine Gruppe junger Türkinnen und Türken aus Istanbul sowie junge Menschen aus Pécs in Ungarn, letztere mit einer ungarndeutschen Herkunft. Mit Hilfe erfahrener Regisseure sollten die jungen Leute eigene Ideen und Geschichten ausprobieren und in Szene setzen; Geschichten von Integration und Migration, Geschichten, in denen es um Ankommen und Bleiben, Distanzierung und Vertrautwerden, den Umgang mit dem Fremden, aber auch um das Bewusstwerden des Eigenen ging. Auf spezifische künstlerische Vorerfahrungen kam es dabei nicht an, wohl aber auf Spontaneität und Authentizität, auf Toleranz und Kooperationsbereitschaft. Dieses Theater, das den Alltag und die gesellschaftlichen Lebensbezüge von jungen Leuten zum Thema machte, fand begeisterte Aufnahme bei den Zuschauern und stärkte das Gefühl der Selbstwirksamkeit bei den jungen Akteurinnen und Akteuren sowie Achtung und Respekt vor den Lebensweisen und -entwürfen ihrer Mitspielerinnen und Mitspieler.

 

Dem kulturellen Gedächtnis widmete sich das Projekt „Jubiläumskinder – Die DDR und ihre friedliche Revolution im „kulturellen Gedächtnis“ der 1989 geborenen ostdeutschen Jugend“. Ausgangspunkt dazu war die Frage, ob es wirklich ohne Belang sei, wo in Deutschland man nach der Wende aufgewachsen war. Das 20-jährige Wiederkehren der friedlichen Revolution im Jahr 2009 war der Anlass, eine besondere Generation, ihre Erfahrungen und Empfindungen in den Blick zu nehmen. Gemeint waren die „Jubiläumskinder“, die damals um die 20-jährigen jungen Männer und jungen Frauen, die erste Generation der neuen Bundesländer, die in das wiedervereinte Deutschland hineingewachsen war. Ausgehend von wissenschaftlichen Studien und kultursoziologischen Beobachtungen wurde der Hypothese nachgegangen, ob und wenn ja in welcher Weise in dieser Generation insbesondere der Alltag und die sozialpolitischen Maßnahmen der SED-Diktatur „verklärt würden“ und somit (unreflektiert) im „kulturellen Gedächtnis“ weiterlebten. In Hinblick darauf hat ARBEIT UND LEBEN Angehörige der Jubiläumskinder-Generation im Rahmen eines Wettbewerbs motiviert, ihre spezifischen Erinnerungen, Erfahrungen, Bewusstseinsmomente und Ausdrucksformen darzustellen – nicht in Form von schriftlichen Reflexionen, sondern mit Hilfe kreativer und künstlerischer Mittel, die dann in einer Ausstellung gezeigt wurden. In diesem Projekt hat ARBEIT UND LEBEN ganz bewusst politische mit kultureller Bildung verbunden.

 

Der gleichen Verbundidee folgt: Musik im „Roten Oktober“: hören und neu erleben – politisch-historisch erinnern – 100 Jahre danach. Dieses Projekt widmet sich der russischen Oktober-revolution, die in der Stalin-Diktatur überaus blutig endete, aber gerade in kultureller Hinsicht so ganz anders, weit hoffnungsvoller begonnen hatte – nämlich als buchstäblich weltbewegender Ausbruch von Kreativität und künstlerischem Ideenreichtum, von neuen Zugängen, Formaten und Ausdruckformen in einer ganzen Reihe von Künsten. Eine Fülle von begabten und engagierten Künstlerinnen und Künstlern war in dieser revolutionären Phase zur Stelle. Sie verstanden sich insofern als Avantgardisten, als sie in und mit ihren Werken die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufheben wollten. Auch mit Hilfe der Kunst den „neuen Menschen“ zu kreieren, das war ihr Traum, der schon bald zum Alptraum werden sollte – auch für viele von ihnen selbst. Dieses Verbundprojekt von politischer und kultureller Bildung widmet sich einer bislang weniger beachteten Kunstsparte, der neuen Musik im „Roten Oktober“, ihrer künstlerischen Originalität genauso wie ihren gesellschaftlichen Entstehungs- und politischen Rahmenbedingungen. Das Projekt führt in Diskussionsforen und anschließenden Aufführungen in innovativer Weise musikalisches Erleben und politisch-historische Reflexion zusammen. Das Nachdenken bleibt durch das musikalische Hörerlebnis nicht abstrakt, sondern gewinnt an unmittelbarer Authentizität, das ästhetische Erleben erhält in der historischen Vergegenwärtigung eine neue Dimension der Orientierung.

 

Wie weniges Andere begründet das Projekt „Musik im Roten Oktober“ den Mehrwert, den die Verbindung von kultureller und politischer Bildung gerade auch für letztere besitzt.

 

In der Bildungsarbeit von ARBEIT UND LEBEN ist das seit langem erkannt und wird – wie die Beispiele zeigen – erfolgreich praktiziert. Nicht zuletzt war es 1948 die Gründungsidee von ARBEIT UND LEBEN, durch politische und kulturelle Bildung einen aktiven Beitrag zum Aufbau der Demokratie zu leisten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im April 2018.

Barbara Menke
Barbara Menke ist Bundesgeschäftsführerin von ARBEIT UND LEBEN.
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