Das Thema „Filmpädagogische Arbeit in der digitalen Gesellschaft“ aus der Sicht der heutigen engagierten Kinos in Deutschland zu beschreiben, ruft förmlich nach einem kleinen Exkurs.
Kino im Zusammenhang mit Filmbildung hat gerade in Deutschland eine interessante Historie, die vor allem auf dem medienpädagogischen Diskurs der 1970er Jahre beruht. Kino wird hier als massenkulturelle Vergnügungseinrichtung beschrieben und die Auseinandersetzung mit Film im schulischen Kontext in räumlicher wie pädagogischer Hinsicht verortet. Diese Sichtweise klammert seit Jahrzehnten aus, dass Kino eine kulturelle Institution in der eigenen Stadt ist und als Rezeptionsort für das Filmerleben einzigartig ist. Die öffentliche Berichterstattung zum Filmerlebnis fokussiert sich ebenfalls auf das Produkt Film und nicht auch auf den Erlebnisort Kino. Film ist zusätzlich mit der Entwicklung von analogen zu digitalen Medien ortsungebunden geworden. Filme gibt es nicht nur mehr im Kino oder im Fernsehen, sondern auch auf PCs, auf privaten Projektionsleinwänden oder gar auf Smartphones. Dass es nahezu immer und an jedem Ort möglich ist, Filme zu konsumieren, verändert in der Gesellschaft zunehmend die Wertigkeit des Filmproduktes. Es wird von Filmflut gesprochen und an vielen Stellen auch in der Filmwirtschaft nach Plattformen gerufen, die am besten alle Filmproduktionen gleichzeitig anbieten können. Interessant ist, dass bei dieser Om¬ni¬prä¬senz wiederum die Filmemacher nach außergewöhnlichen Orten oder Plattformen suchen, um den Aspekt des besonderen Filmerlebnisses wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Nach dieser kurzen Ausführung, wie die Digitalisierung Plattformdenken fördert und das damit verbundene Filmangebot verändert, ist eines klar: Kino ist und bleibt ein besonderer Ort für Film. Filmpädagogische Arbeit und damit kulturvermittelnde Arbeit ist verbunden mit diesem Ort, der etwas Besonderes bietet, nämlich die Möglichkeit der uneingeschränkten Fokussierung auf ein filmkulturelles Werk, welches nur hier seine Wirkung vollständig entfalten kann.
Am 23. März 2016 verabschiedete der Bundestag den neuen Entwurf zum Filmförderungsgesetz. Ein kleiner Satz im Rahmen der Projektkinoförderung ist eigentlich ein Meilenstein des großen Themas Medienpädagogik im Kino, denn zum ersten Mal in der Kinogeschichte gibt es die Möglichkeit, „medienpädagogische Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei zur Aufführung für das Kino bestimmten Filmprogrammen“ (§§ 134 – 137 FFG) zu beantragen. In diesem kleinen Halbsatz versteckt sich einiges, wie
- die Anerkennung des Kinos als Lernort,
- die Anerkennung der Kinos in Deutschland, welche nicht nur Abspielstätte sind, sondern ihre Filmprogramme kuratieren – genauso wie eine Museumsdirektorin oder ein Museumsdirektor sowie Theaterintendantin oder Theaterintendant,
- die Anerkennung, dass Kinos interessiert sind, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die jüngste Kunst Film näher bringen zu wollen.
Interessanterweise hat dieser kleine Satz bisher für wenig Furore gesorgt. Steckt in diesem Satz doch gerade für die Kinos in Deutschland die Anerkennung und die gesetzliche Legitimation, dass sie der Ort sind, der Filmbildung in den Mittelpunkt stellen kann. Diese aktuelle Förderung kann, da sie in der Projektkinoförderung aufgeführt ist, nicht Anfang und gleichzeitig Ende von kultureller Filmbildung im Kino und deren Mitfinanzierung durch die Filmwirtschaft sein. Kino-, Verleiher-, Produzenten-, sogar Drehbuchautorenverbände müssen hier weiterdenken und ein solides Finanzierungskonzept schaffen, dass gerade die neuen filmpädagogischen Möglichkeiten durch die Digitalisierung für die Filmbildung in den Mittelpunkt stellt.
Sehr interessant an diesem Punkt ist, warum dieser Satz in Kombination mit der Digitalisierung der Kinos Möglichkeiten bietet, die an einigen wenigen Orten schon genutzt werden, an vielen Kinoorten aber noch ausgebaut werden müssen – es geht hier um die Format- sowie Zeitunabhängigkeit eines Films! Analoge Filmkopien waren, über die Anzahl der gezogenen Kopien, begrenzt. Das Abspiel dieser Kopien schloss eine Wiederholung von Szenen, ein erneutes Eintauchen in dramaturgische Abläufe oder die Flexibilität der Sprachwahl sowie barrierefreie Untertitelung oder Audiodeskription aus. Diese Möglichkeiten gab es nur im Klassenraum mit DVDs. Die neue Technik in Kinos ermöglicht die bekannte Grundlage für Filmrezeption in Schulen und kann zusätzlich für das Filmerleben einiges mehr bieten.
Präsentationsmöglichkeiten von Referaten, eigener Filme oder sogar eigenes Kuratieren für Schülerinnen und Schüler von Filmreihen, die wiederum im Kino auf der großen Kinoleinwand eine Öffentlichkeit finden, sind nun ohne großen Aufwand möglich und leicht einzubauen in das Filmprogramm. Filmemacherinnen und Filmemacher können per Skype live in die Kinos geschaltet werden, ohne große finanzielle Belastung für das Kino durch Reise- und Übernachtungskosten für Gäste zum Film. Kino kann nun mit seiner neuesten Technik ein moderner und zeitgemäßer Erlebnisort für Film sein.
Die gerade beschriebenen Möglichkeiten bedeuten für Kinobetreiber, dass sie ihr Repertoire um ein spannendes Kapitel erweitern können: intensive filmkulturelle Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Filmkulturelle Arbeit wird interessanterweise bisher in Deutschland eher Landes- oder Bundesinstitutionen oder Initiativen zugeschrieben. Filmmuseen, Vision Kino, Festivals, Medienzentren, kommunale Kinos etc. waren und sind vielerorts die Partner für die medienpädagogische Filmbildung. In dieser filmkulturellen Arbeit wird der Ort Kino, der wiederum selbst bildet, nur wenig einbezogen. Die Reflexion des Filmerlebnisses von Zuschauerinnen und Zuschauern sowie medienpädagogischen Diskussionen im Kino ist nicht Fokus der Filmbranche. Kinobetreiber selbst hatten und haben den Fokus auf ihre Gäste schon immer. Das positive Film- und Kinoerleben wird von ihnen jeden Tag aufs Neue inszeniert. Die Schwerpunktsetzung von Kinobetreiberinnen und Kinobetreibern ist nicht nur der Film selbst, sondern das gesamte Filmerleben. Die gelungene Vorführung eines Films in seiner Gesamtheit ist wichtig. Das Gesamtwerk Film im Raum, in dem Filmsprache, das Handwerk des Filmemachens sich auf der Kinoleinwand optimal entfalten sowie re¬zi¬pie¬rt werden kann, ist der Dreh- und Angelpunkt für Filmerleben im Kino.
Ein neues Thema ist der Begriff der Filmpädagogik selbst. Anfang 2000 wurde immer deutlicher in der Medienpädagogik, dass eine neue Definition speziell für das Medium Film eingeführt werden musste. Diese Einführung ist der Entwicklung geschuldet, dass die wachsende Anzahl von Kommunikations-mitteln mit Breitenwirkung, wie Film, Funk, Fernsehen, Presse, Internetseiten, Social Media etc. als Einrichtungen der Informationsverbreitung nicht mehr nur unter einem Sammelbegriff geführt werden konnten. Die Rezeption dieser Medien ist so unterschiedlich, dass klar wurde, Filmanalyse, Filmsprache und Filmtext sowie die Situation der Rezipientinnen und Rezipienten vereinen, in sehr spezifischer Weise, das bewusste Sehen eines Films.
In anderen europäischen Ländern wie Frankreich, den skandinavischen Ländern, und den Niederlanden wurde Filmpädagogik im Lehrplan als Fach etabliert. In Deutschland ist Film im Lehrplan bisher nur in wenigen Bundesländern ausdrücklich verankert. In den meisten Bundesländern ist nur generell der Einsatz von „Medien“ vorgeschrieben und nicht zwingend deren Analyse, was dazu führt, dass Film in unterschiedliche Fächer eingebettet wird. Eine Filmanalyse, die weitere Motive, Zitate, kameratechnische Feinheiten und vieles mehr für Schülerinnen und Schüler offenbart, kann so nicht umfassend vermittelt werden.
Zusammenfassend kann man sagen: Die kommunikative Kompetenz, sich über audiovisuelle Texte auszutauschen, ist im Verhältnis zu ihrer Dominanz in unserem Alltag viel zu gering. Diese Situation kann einerseits durch deutliche Mediencurricula für bestimmte Altersstufen und Schulformen geändert werden und andererseits vor Ort – und hier sind die Kinobetreiberinnen und Kinobetreiber gefordert – nähergebracht werden. Die Ideen der Mediencurricula ist nicht neu, denn schon Anfang der 1990er Jahre forderten etliche Institutionen in Deutschland diese Veränderung. Neu ist die Möglichkeit durch die Digitalisierung, Filmpädagogik in Verbindung mit Filmvorführungen in Kinos intensiver einzubetten.
Ein Kinobesuch, der Filmpädagogik mit Filmerlebnis verbindet, kann durchaus in einem Schulstunden-Takt umgesetzt werden. Die Ganzsichtung des Films kann hier über ein bis zwei Wochen eingeplant
werden. Die Digitalisierung in Kinos macht möglich, dass ein Film nicht mehr zeitbegrenzt in einem Kino ist, sondern unbegrenzt und mit sehr flexiblen Anfangszeiten angeboten werden kann. Dass der Film als Gesamtkunstwerk und damit natürlich auch als eine Vorstellung mit einem eventuellen anschließenden Filmgespräch zur Verfügung gestellt wird, ist selbstverständlich.
Die Möglichkeiten, welche die Kinodigitalisierung für das Filmerfahren bieten kann, kann nicht kurz zusammengefasst werden und ist mit diesem kleinen Dossier hoffentlich noch lange nicht zu Ende gedacht. Zu Ende gedacht sollte auch nicht sein, dass immer ein gemeinsames Handeln, ein intensiver Austausch mit Kinobetreiberinnen und Kinobetreibern gesucht werden muss, um weitere konzeptionelle Wege zu finden und zu publizieren, um diesen wunderbaren Rezeptionsort für Filme weiterhin in unserer Gesellschaft zu verankern. Kinos können aus der Fast-Food-Mentalität des Viel-und-Schnell-Konsumierens ein neues Filmerleben machen. Die über 4.700 Kinoleinwände in Deutschland sind die größte Fläche für die jüngste Kunst Film und durch die Digitalisierung, auch mit ihren neuen Möglichkeiten Filmpädagogik einzubetten, unendlich wichtig für kulturelle Bildung in unserer Gesellschaft.
Weitere Informationen
Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im Juli 2017.