Der Lockdown ist analog

Und fast alles andere auch

M eine Atemschutzmaske ist aus dreilagiger Baumwolle plus antibakterielle und antivirale Nanosilberbeschichtung. Sie übersteht nach Angaben des Herstellers dreißig 40-Grad-Wäschen. Der Schutz, den ich zwischen mir und anderen aufbaue, ist ein analoger Schutz.

 

Das Wattestäbchen, welches der Doktor für den Test in meinem Rachen hin- und herdreht, ist auch: analog. Das Covid-19-Virus, nanowinzig zwar, aber es besteht aus analogen Molekülen.

 

Leute sagen, zur Bewältigung der Corona-Pandemie brauchen wir eine beschleunigte Digitalisierung. Vorher hätten wir das auch schon gebraucht, aber jetzt erst recht. Das sagen Leute. Es ist bloß so, das, was uns in unser Leben immer wieder reingrätscht, seit wir mit dem Virus leben müssen, das ist analog.

 

Die Einschränkungen für alle Menschen während der letzten sechs Monate, die Versammlungsverbote, die Armbeuge-Nies-Etikette, die geistig-moralische Zweckentfremdung des Ellenbogens für die allgemeine Verständigung und andere Verhaltensrituale – sorry, aber etwas Digitales ist das nicht.

 

All die Zumutungen, die wir uns auferlegen ließen, die uns bei unseren Begegnungen zu wendigen Wieseln und Abstand zu Anstand machten, die Sicherheitskonzepte bei Veranstaltungen, der Sport ohne Zuschauer – all das hat mit der Quarantäne eines gemeinsam: Es ist analog.
Auch das, sicher erst durch Digitalisierung mögliche Homeoffice ist … Entscheiden Sie selbst!

 

Zoom, BigBlueButton, Teams sind verheißungsvolle Namen für digitale Produkte, die uns zueinanderbringen. Aber das Leben, das wir kommunizieren, bleibt analog. Es ist die wichtigste Erkenntnis infolge der Erfahrungen mit der Pandemie. Vorher wäre uns das wohl nicht so aufgefallen.

 

Nicht, dass wir darunter ausschließlich leiden. Nein, die schockierende Erfahrung der Menschheit, einem Mikroorganismus ausgesetzt zu sein, schafft auf eine wundersame Weise Raum für Verheißungen, die noch Anfang März als unrealistisch abgetan worden wären. Plötzlich sind sie mehrheitsfähige Fantasien, ernst zu nehmende Visionen.
Sie formen sich – man wischt sich über die Augen – zu Konzepten. Wie leben? Wie arbeiten? Wie wohnen? Die Antworten gleich dabei: humaner, sozialer, irgendwie langsamer, bewusster.

 

Und die Digitalisierung steht auf dieser Diskurs-Party etwas gedankenverloren herum, weiß nicht so genau, ob in ihrem Glas noch Champagner oder schon Wasser und ob es halbvoll oder halbleer ist. Und sie denkt, pardon, ihre Algorithmen rechnen, dass sie sicher noch gebraucht werden.

 

Aber die wirklich bewegenden Denkmuster sind analog. Die Buchhalter in den Institutionen und Konzernen spitzen die Bleistifte. Man braucht vielleicht künftig gar nicht mehr so viel Büroraum. Städte könnte man ganz anders gestalten. Stadtplaner müssen umdenken. Lebenswertigkeit in die Betonmonster. Wohnungsbau neu erfinden, Schluss mit Drei-Zimmer-Küche-Bad.

 

Und noch mehr: Plötzlich ist der ländliche Raum wieder da. Wenn ich doch nicht jeden Tag zur Arbeit muss: Es gibt schöne Häuser im Hunsrück und in der Uckermark.

 

Wollen wir das wirklich? Beschafft uns das Virus die Erlösungen aus der gedanklichen Gefangenschaft innerhalb der Verdichtung, der Globalisierung, des Wachstums? Laufen wir neuen Verwirrungen hinterher? Tappen wir in die nächste Falle?

 

Vielleicht sind die Debatten richtig, vielleicht sind sie falsch. Es eint sie eines: Die Fragestellungen, die darin vorangetrieben werden, sind tiefanalog. Analog, da denkt man an Röhrenfernseher und Wartezimmer in Einwohnermeldeämtern, an Rückständiges, das manchmal romantisch verklärt wurde. Doch die Debatte dreht sich.

 

Es geht nicht allein um neue Konzeptionen und Visionen. Es geht um sehr grundsätzliche Fragen: Was befähigt uns, empört zu sein? Wie drückt sich unsere Empörung aus? In Shitstorms? Ja, auch in Shitstorms, aber: Wir schauen in die Augen verängstigter Polizisten auf einer Reichstagstreppe. Empörung über die Empörung. Es ist unsere analoge Existenz und die Sorge um sie, die das erzeugt, nicht die digitalen Tools und Treiber, die zweifellos auch mitwirken. Die Einsichten in Notwendigkeiten von Maßnahmen, Einschränkungen, Zumutungen: Das Analoge wird gefordert – und es antwortet analog.

 

Mag sein, dass es jetzt manchen nervt: Das Analoge ist der Kern von Kultur. Einer Kultur, zu der sich Menschen berufen, ja, auch genötigt sehen. Die Anstrengungen von Künstlern, auch in dieser Zeit ihre Kunst zu zeigen, sind nur so zu erklären. Die Tools der Digitalität sind hilfreich, mehr nicht. Der innere Dialog, in den das Virus die Gesellschaften zwingt, ist ein analoger Dialog.

 

Bevor das Virus kam, wurde viel Mühe darauf verwendet, die Optionen digital organisierten Lebens in Nützlichkeiten zu übersetzen. Wir erinnern uns an digitalisierte Milchkannen, die ethisch getränkten Diskurse über selbstfahrende Autos, wir schwärmten von intelligenter bürgerfreundlicher Bürokratie. Digital organisierte Lieferketten wurden gedanklich von Branche zu Branche, von Lebensbereich zu Lebensbereich geschoben, stets angereichert mit smarten Botschaften. Es ging um die Optimierung der Beziehung zwischen Suppliern und Konsumenten, die zu mehr Profit, zu mehr Marktmacht und am Ende auch zu mehr Macht führt. Dieser Diskurs war der dickste Treibriemen für den digital organisierten blauen Planeten, der Motor der sozialen Netzwerke, der Facebooks, TikToks, Instagrams und Twitters dieser Welt. 30 Entwickler in Silicon Valley dressieren mit ihren Softwares die ganze menschliche Kultur. For a better planet, for a better life – wir kennen die blankgewienerten Sätze der Masterminds dort, wo gerade die Wälder brennen. Die, die so viel über menschliche Vulnerabilität wissen und ihre Algorithmen danach bauen. Die Ausblühungen inspirierten auch die Welt gleich nebenan: Hollywood. Blade Runner, Matrix, Robocop …

 

Und: Mitten im Gedankendschungel von Verheißung, Bedrohung und Zweifel entstanden Koketterien: Wenn die Menschheit die Klimakrise nicht stemmt, könnte da nicht eine digitale starke Künstliche Intelligenz die Sache übernehmen?

 

Möglich, dass die Menschheit in den letzten Monaten begriffen hat, dass das großer Quatsch ist. Das Virus ist ein großer Pädagoge.

 

Das kulturelle Wesen Mensch lässt sich nicht in binäre Rechenprozesse übersetzen. Es wird nicht zum Algorithmus, die Leitlinien menschlichen Handelns sind und bleiben durch seine, vom biologischem Stoffwechsel geführte, analoge Existenz definiert.

 

Man kann Homeoffice gut finden oder nicht. Aber die Entscheidungen darüber gründen sich auf das Analoge. Man kann feststellen, es braucht mehr Fahrradverkehr. Bessere Luft, weniger Stress, lebenswertere Städte. Alles analog!

 

Dienstreisen, braucht man die wirklich? Aber Urlaub! Viele haben viel Geld gespart in diesem Jahr. Es zu zählen, da hilft der Algorithmus, aber entscheiden wollen wir selbst.

 

Die Digitalisierung wird nicht krank, niemals, wohl aber wir. Auch für diese Einsicht: Danke, Corona. Da darf man an Impfung denken und an Impfgegner, aber es geht um mehr: Gesundheit als Plattform für die Ausübung staatlicher Macht. Gesundheitssysteme human, demokratisch und zivilgesellschaftlich vertretbar zu gestalten. Es wird eine tiefanaloge Aufgabe sein. Künstliche Intelligenz an Operationstisch und Krankenbett wird da wenig oder gar nicht helfen können.

 

Man darf aber nichts verwechseln. Analoge Gedanken sind keine sanften Gedanken. Sie sind auch keine Postulate für eine bessere Welt. Fahrrad-Highways, autofreie Innenstädte, Urban Gardening, Homeoffice. Analog bleibt analog, im Guten wie im weniger Guten. Rücksicht ist eine humane Eigenschaft, kein digitales Programm.

 

Das Virus hat uns gelehrt, zur Not wird abgeschaltet, das am meisten Systemrelevante sicher zuletzt. Lockdown, nein, angenehm ist das nicht. Aber analog, sehr analog!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Armin Conrad
Armin Conrad leitete von 1995 bis 2015 das 3sat-Magazin Kulturzeit.
Nächster ArtikelTrugbild oder Zukunftsperspektive?