Ressourcen für morgen

Das Potenzial der Obsoleszenz für die Stadtentwicklung

Im Jahr 1956 setzte der Spediteur und Reeder Malcolm McLean zum ersten Mal Container für den Warentransport ein, auf einem eigens dafür umgebauten Tanker – der Ideal X. Seine Erfindung revolutionierte nicht nur die globale Logistik, sie hatte auch disruptive Effekte auf die Hafennutzung. Für die stetig wachsenden Containerschiffe waren viele Hafenanlagen nicht mehr geeignet. Sie wurden entweder ganz aufgegeben oder verlagert. Solche Obsoleszenzen in der Stadt, also Funktionen, die aus der Nutzung fallen und zu Leerständen führen, sind nicht neu. Es gibt zahlreiche Beispiele, etwa die Auflassung von Kasernen nach dem Fall der Mauer, alte Industrieareale aus der Gründerzeit oder zentral gelegene Güterbahnhöfe, die durch Güterverkehrszentren in Stadtrandlage ersetzt wurden.

 

Auf diesen wertvollen Flächenressourcen konnten attraktive Quartiere wie die Hamburger Hafencity, die Bremer Überseestadt, der Ackermannsbogen in München oder Kreativviertel wie die Leipziger Spinnerei entwickelt werden. Diese Flächen wurden auch dringend benötigt, denn seit den 1990er Jahren wachsen Groß- und kleinere Universitätsstädte rapide, und die Diskussion über Wohnungsmangel und steigende Mieten reißt nicht ab. Hier wirkt im Hintergrund ein Megatrend: Wissenskultur und Wissensgesellschaft treiben einen Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt an. Gerade in den Groß- und Universitätsstädten konzentrieren sich Kreativwirtschaft sowie bedeutende Zentren von Forschung und Entwicklung mit attraktiven und gutbezahlten Jobs.

 

Grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen wirken sich also unmittelbar auf die Nutzung des Raumes aus, sind Auslöser für Flächenverknappung, aber auch für Leerstände mit dem Potenzial neuer Nutzungen. Auch der scheinbare Soloeffekt des Containers stand im Zusammenhang mit einem Megatrend, nämlich dem der Globalisierung.

 

Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis diese Nischeninnovation zu grundlegenden Veränderungen im Warentransport führte. Lassen sich diese Erfahrungen nutzen, um herauszufinden, welche Flächen in der Stadt in Zukunft obsolet werden und welche Gebäudetypen betroffen sein werden?

 

Aktuell zeigt sich wie unter dem Brennglas, wie stark sich Digitalisierung auf fast alle Lebensbereiche und damit auch auf den Wandel von Arbeit und Handel auswirkt. Corona wirkt hier aber nur als Beschleuniger, nicht als Auslöser. Der Handel steht schon länger unter dem Druck der digitalen Plattformökonomien von Amazon & Co. Neu ist der disruptive Effekt und dass die analogen Akteure der Entwicklung wehrlos zusehen müssen. Im Dienstleistungssegment sind es professionelle Video Clients wie Zoom, die den Büroturm infrage stellen, und dessen Zukunft vielleicht in einem Wohnturm mit Homeoffices besteht.

 

Und auch im produktiven Sektor kommt es zu Neuordnungen, Industrie 4.0 ist hier das Schlagwort. Der zunehmende Einsatz von Robotik führt zu Flächenredundanzen. Es werden dann weniger Facharbeiter, dafür mehr Informatiker benötigt. Fabrikhallen könnten Softwareschmieden weichen, die sich vertikaler organisieren lassen. Es bliebe dann auch Fläche übrig für mehr Grün und Wohnungen.

 

Braucht es Ereignisse wie die Pandemie, um die verborgenen Entwicklungen sichtbar zu machen oder lässt sich dies systematisch herleiten? Die Forschergruppe Obsolete Stadt, gefördert durch die Robert-Bosch-Stiftung, untersucht aktuell das Obsoleszenz-Risiko von Gebäuden in den Städten Hamburg und Hannover und nutzt Megatrends als Indikatoren. Neben der Globalisierung und der Digitalisierung sind es perspektivisch auch der Klimawandel und die Säkularisierung, die sich als Megatrends auf städtische Funktionen und damit auf die Raumentwicklung auswirken werden.

 

Der Klimawandel etwa wird auf lange Sicht eine nachhaltige Verkehrswende unumgänglich machen, wie wir sie gerade durch Pop-up-Radwege als Vorboten erleben. Dann werden weit weniger Parkplätze und Parkhäuser benötigt. Und auch der Wandel der Religiosität setzt auf vielfältige Weise Flächen frei. Zum einen werden viele Kirchen und Pfarrhäuser obsolet, weil die Kirchgemeinden schrumpfen. Es gibt aber ein noch weit bedeutenderes Phänomen – den Wandel in der Bestattungskultur. Mehr als ein Drittel der Friedhofsflächen in Deutschland wird nicht mehr aktiv genutzt. Das liegt am Trend zur Urnenbestattung, die nur ein Viertel der Fläche einer konventionellen Sargbestattung beansprucht. Große Teile der Friedhöfe könnten daher nach einer Pietätsfrist in Freizeit- und Erholungsflächen umgewandelt werden. In einem besonderen Fall in Berlin-Neukölln entstehen sogar Wohnungen und Sozialeinrichtungen auf ungenutzten Teilen eines ehemaligen Friedhofs. Kirchen können ihren karitativen Ansatz also auf nicht mehr benötigte Flächen ausdehnen und so neues Klientel erschließen. Denn Wandel der Religiosität bedeutet nicht per se, dass die Menschen sich vom Glauben abwenden. Sie praktizieren ihn nur anders und die christliche Ethik kann in integrativen Wohnmodellen vielleicht sogar besser vermittelt werden als mit einer Predigt in der Kirche.

 

Wichtig ist, dass wir die perspektivischen Obsoleszenzen in den Städten als Chance begreifen – und dass wir die Flächen nicht dem freien Spiel der Märkte und der Spekulation überlassen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Stefan Rettich
Stefan Rettich ist Architekt, Partner von KARO architekten in Leipzig und Professor für Städtebau an der Universität Kassel.
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