Woher kommt der Zorn im Osten?

Über die gestörte Erinnerung an eine Republik, deren Namen wir nicht mehr aussprechen

Marco Wanderwitz

 

Wenn heute nun der Ostbeauftragte der Bundesregierung, namentlich Marco Wanderwitz, den Ostdeutschen, die viele Jahre zum großen Teil CDU gewählt haben, ein Demokratiedefizit attestiert, ist das eine Verhöhnung, die ihres Gleichen sucht. Einmal abgesehen davon, dass keine Frauenbeauftragte die Frauen derart kritisieren würde, keine Wehrbeauftragte sich in dieser Weise öffentlich zur Truppe äußern würde, zeugt die Aussage des CDU-Politikers von einem gestörten DDR-Geschichtsbild. In seinem Einzugsgebiet hat es schon eine Demokratie gegeben, lange bevor Wanderwitz seine vielversprechende Politkarriere beginnen durfte …

 

Der ehemalige BasisDruck-Verleger Klaus Wolfram erinnerte 2019 in seiner Rede vor der Berliner Akademie der Künste an das letzte Jahr der DDR: „Da war sie plötzlich, die große Zeit, das Wunderjahr. Sofort daran zu erkennen, dass die Menschen den Kopf höher trugen, im Betrieb wie auf der Straße, sie sahen einander ins Gesicht und ließen sich ansprechen. Offenheit begann als eigene Handlung.“ Was mit Massendemonstrationen anfing, habe bald schon seine Fortsetzung gefunden in der Absetzung von Bürgermeistern, in der Neuwahl von Werksleitungen durch Belegschaftsversammlungen wie auch in der Bildung spontaner Bürgerkomitees, die dann eigenmächtig die Kasernentore öffnen ließen, „oder eben jene Erfurter Frauen, die am 4. Dezember die erste Bezirksverwaltung des MfS schlossen und versiegelten“. Drei Tage später nahm in Berlin der Zentrale Runde Tisch seine Arbeit auf, Hunderte kommunale und fachspezifische Runde Tische wurden gegründet, die Entscheidungen trafen, die bis weit in das Jahr 1990 wirkten. Die staatliche Leitung war geschwächt und vielerorts außer Kraft gesetzt: Revolution! Dass diese eine friedliche blieb, lag auch an der Bereitschaft der anderen Seite, sich dem Prozess der Demokratisierung zu fügen. Die Gesellschaft organisierte selbst. Politik ohne Politiker, vor allem ohne Hilfe aus dem Westen. Und: ohne CDU.

 

Noch im November 1989 veröffentlichte das Mitgliederjournal „Utm“ (Union teilt mit) die Namen von CDU-Mitgliedern, die „für ihre Verdienste um die weitere Ausgestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft (…) anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR“ mit dem Großen Stern der Völkerfreundschaft, dem Nationalpreis III. Klasse oder wenigstens der Medaille für ausgezeichnete Leistungen prämiert worden waren. Bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 hatten sich DDR-weit mehr als 17.000 Mitglieder der Block-CDU als Kandidaten aufstellen lassen, was eine gute Basis gewesen wäre, um gegen den Wahlbetrug der SED zu protestieren. Das taten andere, und zwar über Monate.

 

Mit anderen Worten: In der Friedlichen Revolution spielte die Christlich Demokratische Union mit ihren Mitgliedern und Funktionären keine Rolle. Hierin liegt auch der Hauptgrund dafür, dass sich ihre Erinnerungspolitik auf den Mauerfall fokussiert, auf Helmut Kohl und die Wiedervereinigung. – Dass es einmal eine Zeit und ein Land gegeben hat, wo Berufspolitiker nicht gebraucht wurden, daran mag heute kein Repräsentant erinnern. Dann schon lieber an Feuerwerk und Zapfenstreich zum „Tag der Einheit“, der ja das Werk der Politik ist.

 

Nur haben sich die Ossis ihre Demokratie selbst gegeben. Binnen wenigen Monaten hatte sich die kleine Republik in einen demokratischen deutschen Staat gewandelt, mit demokratisch legitimiertem Parlament und einer Regierung, die im Auftrag der Mehrheit ihrer Bürger Verhandlungen mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland führte sowie mit den Siegermächten der Anti-Hitler-Koalition. Die DDR ist nicht untergegangen, wie immer kolportiert wird, sondern frei und souverän am 3. Oktober 1990 in aller Form der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Wenn nun jedes Jahr die Wiedervereinigung gefeiert wird, ist von diesem zweiten demokratischen Staat auf deutschem Boden nie die Rede. Will heißen: Seit über 30 Jahren wird in den Feiertagsansprachen der Politik der freie Wille der DDR-Bürger, d.h. ihre historische Leistung, missachtet. – Da muss sich niemand wundern, wenn umgekehrt immer mehr Ostdeutsche die Politik verachten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Karsten Krampitz
Karsten Krampitz ist Schriftsteller und Journalist.
Vorheriger ArtikelAlarm – Probleme mit der politischen Bildung sind unübersehbar
Nächster ArtikelIn 30 Sekunden nicht zu erklären