Hat es die DDR überhaupt gegeben?“, fragte Ende der 1990er Jahre der unvergessene Peter Ensikat. Die Diktatur-Debatte war voll im Gange, allerdings in zwei getrennten Diskursen – Ankläger oder Apologeten des SED-Staats. Die einen erzählten die Geschichte von ihrem Ende her und betonten die Unterdrückungsmechanismen. Während die andere Seite ihre Erzählung mit der Staatsgründung begann als antifaschistisches Aufbauwerk gescheiterter Versuch einer sozial gerechten Gesellschaft. Der außerordentliche Eifer, mit dem beide Seiten argumentierten, ohne dass sich die Diskurse auch nur ansatzweise miteinander vermengten, lässt sich nicht allein mit einem Interesse an der Aufarbeitung erklären. Bis heute verspricht die Deutungshoheit zur DDR-Geschichte einen beachtlichen Stellungsvorteil im Ringen um die kulturelle Hegemonie. Wer die geistige Lufthoheit besitzt, gewinnt Wahlen. Allerdings erinnern die Bücher und Artikel vieler Politikwissenschaftler, Theologen und Ex-Bürgerrechtler an das Schneidergewerbe, wo der Stoff so lange „aufgearbeitet“ wird, bis er passt. Geschichte aber, wie es sich tatsächlich zugetragen hat, ist immer komplizierter und widersprüchlicher als unsere Fähigkeit, davon zu berichten. Erst recht in der Deutschen Demokratischen Republik, deren Name heute nach Möglichkeit nicht mehr ausgesprochen oder ausgeschrieben wird und dessen Kürzel immer mit dem Vorwort „ehemalige“ versehen wird – was nur logisch ist, weil ich ja auch von meinem toten Großvater als „ehemaligen Opa“ rede.
Kein praktikabler Herrschaftsbegriff
Ungeachtet der vielen Wortmeldungen fehlen uns im DDR-Kontext – im Unterschied etwa zum Kaiserreich oder zur Weimarer Republik – immer noch die richtigen Worte respektive ein Wort: ein praktikabler Herrschaftsbegriff. Parteidiktatur, Homunculus sovieticus, autoritärer Fürsorgestaat – an Bezeichnungen mangelt es nicht; als Konsensbegriff in der Gesellschaft durchgesetzt hat sich keiner dieser Termini, schon gar nicht der „Unrechtsstaat“, was nicht heißen soll, dass es in diesem Staat kein Unrecht gegeben hat. Doch das berühmte Adorno-Aperçu mit Blick auf die Nazizeit: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ will so gar nicht auf die DDR-Verhältnisse passen. Denn was auch immer man dem SED-Staat vorwerfen kann, er war an keinem Angriffskrieg und an keinem Völker- und Massenmord beteiligt. Dennoch wird die DDR fortwährend in eine Linie mit der NS-Zeit gestellt.
Bedauerlicherweise hat es in der Bundesrepublik Deutschland nie eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Hitlerdiktatur gegeben. Deren Arbeitsergebnisse hätten die Absurdität solcher Vergleiche deutlich gemacht. Das Satiremagazin Titanic brachte vor vielen Jahren das Absurde solcherart Gleichsetzung auf den Punkt: 40 Jahre brutale Freiheitsverweigerung in der DDR hätten in etwa so viele Tote produziert wie Auschwitz in einer Mittagspause.
Die SED-Diktatur soll hier nicht verklärt, die Stasi nicht verharmlost werden. Geschichte aber muss als Ganzes angenommen werden. Allein mit den Denkfiguren Täter, Mitläufer und Opfer lässt sich der Alltag in der DDR nicht wirklich erzählen. Und was Adorno betrifft: Selbstverständlich haben viele Menschen in diesem Land ein „richtiges Leben im falschen“ geführt. In Ostberlin, Dresden oder Rostock wurde genauso Brot gebacken, wurden Häuser gebaut und kranke Menschen gepflegt wie in westdeutschen Städten. Auch in der DDR haben Eltern ihre Kinder geliebt, waren Menschen glücklich. Freilich: Es hat Repression gegeben, politische Verfolgung – infolge der Wiedervereinigung aber auch die Entwertung von Millionen Arbeitsbiografien. Durch die offizielle Erinnerungspolitik wurde nicht nur der DDR-Staat im Nachhinein delegitimiert, auch das Leben der Menschen dort. Hinzu kamen die sozialen Verwerfungen der 1990er Jahre, die eine sachliche Aufarbeitung erschwerten. Und zwar Aufarbeitung im Sinne von Aufklärung, nicht Vergeltung.
Der Schriftsteller Wolfgang Hilbig, der Ende August 80 Jahre alt geworden wäre, geißelte die Folgen der Wiedervereinigung als „Unzucht mit Abhängigen“. In seiner Rede zur Verleihung des Lessing-Preises sagte Hilbig 1997: „Vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, dass erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat werden lassen, die wir nie gewesen sind, jedenfalls nicht, solange wir dazu gezwungen waren.“
Die DDR war eine Diktatur, aber nicht nur. Wenn sich nach ihrem Ende über Jahrzehnte hinweg die übergroße Mehrheit der Menschen, die in diesem Land gelebt haben, im staatlich postulierten Geschichtsbild nicht wiederfindet, dann hat das für die innere Verfasstheit der Gesellschaft Konsequenzen. Ein Leben, das nicht erzählt werden kann, macht Menschen krank.
Die andere Seite der Erinnerung
Das kollektive Gedächtnis der Ostdeutschen war schon in der DDR gespalten: in einen erzählbaren und in einen dunklen Teil, den man besser verschwieg. Die eine Hälfte erzählte von Verfolgung und Widerstand während der Nazizeit – eine Erinnerung, die nur die wenigsten hatten –, während die andere Hälfte der Erinnerung schweigen sollte: von der individuellen Verstrickung in den Terrorapparat der Nazis, von den Verbrechen der Männer im Krieg und von der Vergewaltigung so vieler Frauen bei Kriegsende. Die Mehrheit der Deutschen war am 8. Mai 1945 nicht befreit worden, die Armeen der Anti-Hitler-Koalition haben die Deutschen besiegt. Diese kollektive Gedächtnisspaltung setzte sich nach 1990 fort – mit Folgen, die wir heute deutlich zu spüren bekommen. Die Filterung wie auch die Verdrängung der Geschichte haben in Ostdeutschland über Generationen hinweg eine tiefenpsychologische Dynamik entwickelt. Historische Ereignisse, die nicht erzählt, nicht thematisiert werden, so der österreichische Gedenkstättenpädagoge Peter Gstettner, verschwinden nicht einfach aus unserer Gedankenwelt; die kollektive Erinnerung daran versinkt ins gesellschaftlich Unbewusste, wie in einen Orkus, ein Totenreich, ein „schwarzes Loch“, das alle unterdrückten Ängste, Wünsche und Erinnerungen etc. aufnimmt. Das Problem dabei: Die Energien des nicht verarbeiteten Geschehens bleiben als „unterirdisches Wissen“ erhalten. Und mit der Zeit entwickeln die verdrängten Gedanken, Gefühle und Erinnerungen ein destruktives Eigenleben. Die Erinnerung, die man eigentlich vergessen wollte, ist jederzeit bereit, aus dem Orkus wieder aufzusteigen und den sich dunkel erinnernden Menschen zu quälen, als wäre die Gegenwart nicht schon schlimm genug. Viele Ostdeutsche fühlen sich erschöpft vom Wandel ihrer Lebenswelt – vom Kahlschlag der Nachwendezeit, der Digitalisierung, Globalisierung und dann noch Corona.
Früher oder später passiert es: Der Mensch beginnt zu hassen. Denn Hass betäubt den Schmerz. Ähnlich den Schuldgefühlen wird auch der Hass nicht immer dort verarbeitet, wo er entsteht. Die Feindbilder sind austauschbar: Flüchtlinge, Juden, Schwule oder einfach nur Wessis.