„Entscheidend war die Nähe zum Leser“

Die Entwicklung der SED-Bezirkszeitung "Das Volk" zur "Thüringer Allgemeine"

Sergej Lochthofen, ehemaliger Chefredakteur der »Thüringer Allgemeine«, hat im November vor zehn Jahren deren Redaktion verlassen. Damals wie heute nennt man seinen Namen in einem Atemzug mit der ersten Zeitung, die sich von der SED lossagte. Theresa Brüheim ist mit der „Thüringer Allgemeine“ am Frühstückstisch aufgewachsen. Beide sprechen in Erfurt über den Transformationsprozess von „Das Volk“ zur „Thüringer Allgemeine“.

 

Theresa Brüheim: Herr Lochthofen, Anfang der 1970er Jahre kamen Sie als Volontär zu „Das Volk“, der Zeitung der SED-Bezirksleitung Erfurt. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Eindruck?
Sergej Lochthofen: Ja, ich war 18, hatte mit 16 Abitur gemacht und bereits ein paar Semester Kunst auf der Krim studiert. Das war eine gute Zeit, aber Kunst im real existierenden Sozialismus hatte schon ihre Merkwürdigkeiten. Ich erinnere mich, wie ich mit einem Besenstiel in der Hand – er sollte ein Gewehr imitieren – für unseren Lehrer Modell stehen musste. Er arbeitete an einem Monumental-Schinken „Die Partisanen“ und haderte mit sich, ob es richtig sei, eine so wichtige Rolle mit jemandem aus Deutschland zu besetzen.
Zurück in der DDR, entschied ich mich für den Journalismus. Da mein Vater in der Emigration als Journalist arbeitete, schien mir das keine schlechte Idee. Dass die Arbeit meinem Vaters viele Jahre Lagerhaft in Workuta einbrachte, nun ja … Ich stellte mir lieber so einen Tausendsassa zwischen Moskau, New York und Paris vor. Die Filme waren voll davon. Dass die Realität eines Parteijournalisten in Erfurt oder Gotha eine ganz andere war, merkte ich schnell. Wollte aber nicht aufgeben.

 

Nach dem Volontariat ging es zum Journalistik-Studium nach Leipzig.
Heute folgt in der Regel das Volontariat dem Studium. Im Osten war es genau umgekehrt, man konnte nur studieren, wenn man von einer Redaktion delegiert wurde.
Da die Zeitungen der Partei oder den Block-Parteien gehörten, gab es einen starken Druck auf die Volontäre, Parteimitglieder zu werden. Nichts blieb dem Zufall überlassen. So war die Leine noch kürzer, an der man geführt wurde. Da ich einen russischen Pass besaß, hatte ich Glück: Ich wollte nicht, und die SED nahm keine Ausländer auf. So blieb ich die ganze Zeit parteilos.

 

Bis zur Wende arbeiteten Sie als Redakteur in eben dieser Redaktion. Wie sah die Berichterstattung aus?
Direkte Zensur wie in der Sowjetunion oder in Polen gab es nicht. Dort konnten Zeitungen nur erscheinen, wenn die Seiten von den jeweiligen Parteifunktionären frei gegeben wurden. Aber auch die indirekte Form der Zensur in der DDR war nicht weniger wirksam: Jeder Redakteur kannte den schmalen Grat, den die Parteibeschlüsse vorgaben. Wer davon abwich, hatte beruflich keine Zukunft. Ein Kollege hatte in einem Brief an seine Schwester die Mauer dafür verantwortlich gemacht, dass man sich nicht sehen konnte. Er wurde aus der Partei ausgeschlossen und aus der Redaktion geschmissen. Nur mit Geschick konnte man der Ödnis entfliehen. Ich machte Interviews mit Manfred von Ardenne, schrieb eine Reihe von Reportagen aus Sibirien. Richtig Hoffnung kam aber erst mit Gorbatschow auf. Für den Westen war es allenfalls spannend, was da im Kreml passierte. Für uns war es existenziell. Doch während durch die Sowjetunion ein frischer Wind wehte, wurde es hier immer stickiger. Die DDR blieb knochenhart, stalinistisch. Die Situation wurde immer schizophrener: Der einstige „große Bruder“ mutierte zum „bösen Onkel“.

 

Dann kamen die Montagsdemonstrationen – auch nach Erfurt. Ab wann und wie berichtete „Das Volk“?
Als die erste Demonstration durch Erfurt zog, war ich nicht der Berichterstatter, aber natürlich dabei. Später in der Redaktion kam es zu einer gespenstigen Situation: Auf Anweisung von „Säge-Müller“, dem örtlichen Parteiboss, sollte die Zahl der Teilnehmer an der Demonstration auf einen Bruchteil gedrückt werden. Statt 40.000 nur 10.000. Alle wussten, dass es gelogen war. Aber der große Mut, direkt zu widersprechen, fehlte noch. So schrieb man über den Text „Offizielle Mitteilung“, was für die Leser eine sichtbare Distanzierung war. Im Vorfeld der Ereignisse hatte ich mit Matthias Büchner, Kopf des Neuen Forums in der Region, ein Gespräch geführt, es war wohl das erste Interview mit einem Oppositionellen in einer Parteizeitung. Er sorgte sich, dass es bei der Demonstration zu Provokationen seitens der Stasi kommt, und die Ereignisse in Erfurt eskalieren. Da es mit den Parteioberen keinen Kontakt gab, bat er mich, ob ich irgendwie vermitteln könnte. Das ging dann nach dem Prinzip der stillen Post: Ich trug die Sache dem Chefredakteur vor, er ging damit zur Bezirksleitung, kam wieder zurück, ich ging zu Büchner und gab Entwarnung. So war es dann auch.

 

Die Mauer fiel und „Das Volk“ sagte sich als erste Zeitung von der SED los.
Das ging mir alles viel zu langsam. Ich hätte mir einen radikalen Schnitt gewünscht, aber viele in der Redaktion zögerten. Es gab mehrere Anläufe, die Partei rauszuwerfen, die allesamt schiefgingen. Doch nach und nach dämmerte es selbst dem Letzten: So ging es nicht weiter, eine Parteizeitung hatte in der neuen Zeit keine Zukunft. Nach einigen Turbulenzen erschien im Januar statt „Das Volk“ die „Thüringer Allgemeine“. Wir hatten uns als erste von der Partei losgesagt. Es dauerte zum Teil Wochen oder sogar Monate, bis andere folgten. Uns trieb vor allem der Gedanke, in dem heraufziehenden Wahlkampf für niemanden Partei ergreifen zu müssen. Das fanden nicht alle gut. Die aus der SED hervorgegangene PDS machte mit Gregor Gysi an der Spitze Druck. Wir waren ja, was das Zeitungspapier anbelangte, völlig abhängig. Die Reserven reichten nur wenige Tage. Und Papier kaufen konnte man in der DDR nicht. Aber wir blieben hart und drohten unsererseits: Auf dem letzten Fetzen Papier würden wir drucken, wer uns erpresst. Das hatte Wirkung.

 

Als von der Redaktion neu gewählter Chefredakteur der „Thüringer Allgemeine“ übernahmen Sie große Verantwortung. Wie haben Sie die wahrgenommen?
Viel Zeit zum Nachdenken hatte man nicht. Die Redaktion meinte, sie braucht einen Chefredakteur. Der alte war nicht mehr da, stattdessen ein Redaktionsrat. So wurde ich im Februar 1990 gewählt. Basisdemokratisch. Die Unabhängigkeit hatten wir uns damals schon erkämpft. Wir waren völlig frei, das zu schreiben, was wir wollten. Das war gut. Einen Herausgeber gab es ja nicht mehr. Eigentlich wollten wir die Zeitung für eine symbolische Mark erwerben. Aber da kam die Treuhand, und die hatte etwas dagegen. Zwar hielt man nicht viel von den Zeitungen im Osten, es hieß, die würden sowieso alle bald pleitegehen, aber vorsichtshalber teilte man die Titel doch unter sich auf. Die Verlagsfreunde von Kohl und Genscher durften sich in Chemnitz und Halle als erste bedienen, die anderen balgten sich um den Rest. Die vorausgesagte Pleite der Ost-Zeitungen wurde zu einem der wenigen Milliardengeschäfte der Treuhand. In Erfurt haben wir wenigstens selbst entschieden, wer als Investor infrage kommt. Das brachte uns, vor allem mir, einen gewissen Ruf der Widerborstigkeit ein. Nicht gerade typisch für jemanden aus dem Osten.

 

Ziel war eine unabhängige, freie, demokratische Zeitung. Wie haben Sie das jeden Tag Stück für Stück umgesetzt in dieser Übergangsphase?
Schon im Herbst erschien in der Zeitung die erste Enthüllungsstory über einen Parteibonzen im Osten. Es ging um das Jagdhaus des besagten „Säge-Müllers“. Er hatte sich das auf Staatskosten fein ausbauen und auch den Weg durch den Wald asphaltieren lassen. In einem Land, das nur aus Schlaglöchern bestand, ein Skandal. Als er von unserer Recherche hörte, drohte er mit dem Staatsanwalt. Den er ja fest im Griff hatte. Aber wir druckten trotzdem. Dennoch: Viele Journalisten gehörten nicht zu jenen, die fünf vor zwölf, sondern erst fünf nach zwölf merkten, was die Stunde geschlagen hatte. Das bleibt an ihnen hängen. Und es war ein Stück harter Arbeit, das verlorene Vertrauen wieder zu gewinnen.

 

Inwieweit sind Sie in dieser Transformation an Grenzen gestoßen?
Mit dem Wahlkampf 1990 brach über uns ein erbittert geführter Verdrängungswettbewerb herein. Das ging ja vielen im Osten so. Unsere Druckmaschinen pfiffen aus dem letzten Loch und produzierten nur acht Seiten. Die Konkurrenz aus dem Westen hatte dagegen nicht nur 32 Seiten zu bieten, sondern kam auch noch mit fünf Lokalseiten einmarschiert. Nach außen ging es um hehre publizistische Grundsätze, in Wirklichkeit um nichts anderes als um ein lukratives Geschäft. In der alten Bundesrepublik waren die Claims abgesteckt. Es dauerte, bis wir dem etwas entgegensetzen konnten. Entscheidend war wohl am Ende die Nähe zum Leser. Wir Journalisten durchlebten ja den gleichen Umbruch wie all die Menschen um uns herum. Über Nacht änderte sich alles. Die Konkurrenz aus dem Westen hatte einen Blick von oben drauf. Das ließ sich nicht verheimlichen. Große Zeitungen schrieben im Ton von Auslandskorrespondenzen über Thüringen oder Sachsen. So schmollen sie heute noch angesichts der mickrigen Auflagen im Osten.

 

Wie reagierten die Leser darauf?
Eine erhellende Episode aus dieser Zeit: Der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt hatte ein Stück seines Vorlebens im thüringischen Arnstadt verbracht, ehe er in den Westen abgehauen war. Nun saßen wir bei einem Wirtschaftstreffen, das ich moderiert hatte, und kamen ins Gespräch. Rexrodt tat erstaunt: Bei einem Besuch in Arnstadt hätte man ihm gesagt, in der Redaktion der „Thüringer Allgemeine“ würden noch immer „die Alten“ sitzen. Stimmt das? Ich beugte mich zu ihm rüber und sagte mit Verschwörer-miene: „Herr Rexrodt, es ist noch viel schlimmer, die Leser sind auch noch die Alten.“
Mein Ziel als Chefredakteur war es, nicht nur die Leser gut zu informieren, sondern auch ihr Selbstvertrauen zu stärken. Da gibt es heute noch Defizite. Nicht wenige sind in der DDR kleingehalten und nach der Wende nur rumgeschubst worden. Das hat Langzeitwirkung und wird heute politisch schamlos ausgenutzt. Es ist einer der Gründe, warum die Menschen in den neuen Ländern für radikale Parolen besonders anfällig sind. Da stört es deren Anhänger nicht einmal, dass fast alle wichtigen Posten in der neuen Partei wie bei der Treuhand von westdeutschen Importen besetzt sind. Frei nach Erich Kästner: Sie trinken den Kakao, durch den man sie zuvor gezogen hat.

 

Später waren Sie omnipräsent in ARD und ZDF. Ich erinnere mich noch an einige Ihrer Auftritte im Presseclub. Da bekamen Sie den Beinamen „Die Stimme des Ostens“. Wie finden Sie diesen?
Gibt es eine Stimme des Westens? Nein? So gibt es sicher auch niemanden, der das im Osten ernsthaft von sich behaupten kann. Aber wie Journalisten so sind, Fritz Pleitgen hat mir das wohl eher ironisch an die Brust geheftet. So kam es in die Welt. Natürlich war ich sichtbar einer, der aus dem Osten kommt, und ganz gewiss habe ich andere Erfahrungen als jemand, der in Hamburg oder Castrop-Rauxel aufgewachsen ist. Da konnte es interessant sein, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Vor allem war ich bemüht, aus dem Inneren heraus den Osten für den Westen zu erklären, ohne dabei den einen wie den anderen nach dem Mund reden. Das fehlt mir heute allzu oft.

 

Inwieweit kann man „den Osten“ überhaupt erklären?
Ein Glück, der Osten ist ja im Schwinden und ist oftmals nur noch ein Ort im Kopf. Wie es ja auch die heile Welt des Westens nur noch in der Erinnerung gibt. Aber das dauert natürlich. Und wir müssen aufpassen, dass Fehlentwicklungen, wie der Rückfall in den Nationalismus, uns nicht vom rechten Weg abbringen. Als ich Anfang der 1990er Jahre in einer Sendung sagte, dass die gröbste Arbeit bei der Angleichung der Verhältnisse mindestens eine Generation dauert, also 25 oder 30 Jahre, wurde ich als unverbesserlicher Pessimist gebrandmarkt. Angesichts der düsteren Debatten von heute, was alles nicht erreicht wurde, erscheint die Aussage als leichtsinniger Optimismus. Als Journalist sollte man sich nicht verunsichern lassen. Unsere Arbeit wird nötiger gebraucht denn je. Denn die Welt quillt über von Informationen. Richtigen und noch mehr falschen. Alles zu sortieren ist Schwerstarbeit. Leider sind die Zeitungen auf dem Rückzug. Gerade an den Wahlergebnissen im Osten ist nicht zu übersehen, wie schnell die Verblödung voranschreitet.

 

Wie blicken Sie heute auf die „Thüringer Allgemeine“?
Es schmerzt. Besser als jeder Außenstehende sehe ich, was die endlosen Sparrunden in der Zeitung angerichtet haben. Dazu die ständigen Preiserhöhungen. Die Folge ist ein chronischer Leserschwund. Das heißt: Bedeutungsverlust. Wie soll es auch funktionieren, wenn ein wesentlicher Teil der journalistischen Arbeit zentral für mehrere Blätter in Berlin erledigt wird? Manche Ausgaben machen den Eindruck, als würden sie schon in China zusammengeschraubt. Dabei sind gute Zeitungen gerade im Osten nötiger denn je. In den Parlamenten sitzen zunehmend Menschen, denen früher selbst in der Kneipe keiner zugehört hat. Die blasen sich mit ihren Parolen auf. Da tut Aufklärung not, Sachlichkeit. Schauen Sie auf die Stimmung im Land. Überall wird gemeckert und genörgelt. Das Internet ist voll davon. Fast hat es den Anschein, umso besser es den Leuten geht, umso unzufriedener werden sie. Man darf es ja kaum laut sagen, aber die Arbeitslosigkeit in Thüringen liegt niedriger als in großen Teilen des Westens. Ganz zu schweigen vom Ruhrgebiet. Das nennt man doch wohl Realitätsverlust? Guter Stoff für guten Journalismus. Doch der scheint mir eher hilflos. Luther hat das gut erkannt: Aus einem verzagten Arsch fährt kein fröhlicher Furz. Das sieht man den Zeitungen täglich an. Schade. Ich bin froh, dass ich das nicht verantworten muss.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Sergej Lochthofen und Theresa Brüheim
Sergej Lochthofen ist Journalist und Buchautor von "Schwarzes Eis" und "Grau". Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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