„Entscheidend war die Nähe zum Leser“

Die Entwicklung der SED-Bezirkszeitung "Das Volk" zur "Thüringer Allgemeine"

 

Ziel war eine unabhängige, freie, demokratische Zeitung. Wie haben Sie das jeden Tag Stück für Stück umgesetzt in dieser Übergangsphase?
Schon im Herbst erschien in der Zeitung die erste Enthüllungsstory über einen Parteibonzen im Osten. Es ging um das Jagdhaus des besagten „Säge-Müllers“. Er hatte sich das auf Staatskosten fein ausbauen und auch den Weg durch den Wald asphaltieren lassen. In einem Land, das nur aus Schlaglöchern bestand, ein Skandal. Als er von unserer Recherche hörte, drohte er mit dem Staatsanwalt. Den er ja fest im Griff hatte. Aber wir druckten trotzdem. Dennoch: Viele Journalisten gehörten nicht zu jenen, die fünf vor zwölf, sondern erst fünf nach zwölf merkten, was die Stunde geschlagen hatte. Das bleibt an ihnen hängen. Und es war ein Stück harter Arbeit, das verlorene Vertrauen wieder zu gewinnen.

 

Inwieweit sind Sie in dieser Transformation an Grenzen gestoßen?
Mit dem Wahlkampf 1990 brach über uns ein erbittert geführter Verdrängungswettbewerb herein. Das ging ja vielen im Osten so. Unsere Druckmaschinen pfiffen aus dem letzten Loch und produzierten nur acht Seiten. Die Konkurrenz aus dem Westen hatte dagegen nicht nur 32 Seiten zu bieten, sondern kam auch noch mit fünf Lokalseiten einmarschiert. Nach außen ging es um hehre publizistische Grundsätze, in Wirklichkeit um nichts anderes als um ein lukratives Geschäft. In der alten Bundesrepublik waren die Claims abgesteckt. Es dauerte, bis wir dem etwas entgegensetzen konnten. Entscheidend war wohl am Ende die Nähe zum Leser. Wir Journalisten durchlebten ja den gleichen Umbruch wie all die Menschen um uns herum. Über Nacht änderte sich alles. Die Konkurrenz aus dem Westen hatte einen Blick von oben drauf. Das ließ sich nicht verheimlichen. Große Zeitungen schrieben im Ton von Auslandskorrespondenzen über Thüringen oder Sachsen. So schmollen sie heute noch angesichts der mickrigen Auflagen im Osten.

 

Wie reagierten die Leser darauf?
Eine erhellende Episode aus dieser Zeit: Der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt hatte ein Stück seines Vorlebens im thüringischen Arnstadt verbracht, ehe er in den Westen abgehauen war. Nun saßen wir bei einem Wirtschaftstreffen, das ich moderiert hatte, und kamen ins Gespräch. Rexrodt tat erstaunt: Bei einem Besuch in Arnstadt hätte man ihm gesagt, in der Redaktion der „Thüringer Allgemeine“ würden noch immer „die Alten“ sitzen. Stimmt das? Ich beugte mich zu ihm rüber und sagte mit Verschwörer-miene: „Herr Rexrodt, es ist noch viel schlimmer, die Leser sind auch noch die Alten.“
Mein Ziel als Chefredakteur war es, nicht nur die Leser gut zu informieren, sondern auch ihr Selbstvertrauen zu stärken. Da gibt es heute noch Defizite. Nicht wenige sind in der DDR kleingehalten und nach der Wende nur rumgeschubst worden. Das hat Langzeitwirkung und wird heute politisch schamlos ausgenutzt. Es ist einer der Gründe, warum die Menschen in den neuen Ländern für radikale Parolen besonders anfällig sind. Da stört es deren Anhänger nicht einmal, dass fast alle wichtigen Posten in der neuen Partei wie bei der Treuhand von westdeutschen Importen besetzt sind. Frei nach Erich Kästner: Sie trinken den Kakao, durch den man sie zuvor gezogen hat.

 

Später waren Sie omnipräsent in ARD und ZDF. Ich erinnere mich noch an einige Ihrer Auftritte im Presseclub. Da bekamen Sie den Beinamen „Die Stimme des Ostens“. Wie finden Sie diesen?
Gibt es eine Stimme des Westens? Nein? So gibt es sicher auch niemanden, der das im Osten ernsthaft von sich behaupten kann. Aber wie Journalisten so sind, Fritz Pleitgen hat mir das wohl eher ironisch an die Brust geheftet. So kam es in die Welt. Natürlich war ich sichtbar einer, der aus dem Osten kommt, und ganz gewiss habe ich andere Erfahrungen als jemand, der in Hamburg oder Castrop-Rauxel aufgewachsen ist. Da konnte es interessant sein, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Vor allem war ich bemüht, aus dem Inneren heraus den Osten für den Westen zu erklären, ohne dabei den einen wie den anderen nach dem Mund reden. Das fehlt mir heute allzu oft.

 

Inwieweit kann man „den Osten“ überhaupt erklären?
Ein Glück, der Osten ist ja im Schwinden und ist oftmals nur noch ein Ort im Kopf. Wie es ja auch die heile Welt des Westens nur noch in der Erinnerung gibt. Aber das dauert natürlich. Und wir müssen aufpassen, dass Fehlentwicklungen, wie der Rückfall in den Nationalismus, uns nicht vom rechten Weg abbringen. Als ich Anfang der 1990er Jahre in einer Sendung sagte, dass die gröbste Arbeit bei der Angleichung der Verhältnisse mindestens eine Generation dauert, also 25 oder 30 Jahre, wurde ich als unverbesserlicher Pessimist gebrandmarkt. Angesichts der düsteren Debatten von heute, was alles nicht erreicht wurde, erscheint die Aussage als leichtsinniger Optimismus. Als Journalist sollte man sich nicht verunsichern lassen. Unsere Arbeit wird nötiger gebraucht denn je. Denn die Welt quillt über von Informationen. Richtigen und noch mehr falschen. Alles zu sortieren ist Schwerstarbeit. Leider sind die Zeitungen auf dem Rückzug. Gerade an den Wahlergebnissen im Osten ist nicht zu übersehen, wie schnell die Verblödung voranschreitet.

 

Wie blicken Sie heute auf die „Thüringer Allgemeine“?
Es schmerzt. Besser als jeder Außenstehende sehe ich, was die endlosen Sparrunden in der Zeitung angerichtet haben. Dazu die ständigen Preiserhöhungen. Die Folge ist ein chronischer Leserschwund. Das heißt: Bedeutungsverlust. Wie soll es auch funktionieren, wenn ein wesentlicher Teil der journalistischen Arbeit zentral für mehrere Blätter in Berlin erledigt wird? Manche Ausgaben machen den Eindruck, als würden sie schon in China zusammengeschraubt. Dabei sind gute Zeitungen gerade im Osten nötiger denn je. In den Parlamenten sitzen zunehmend Menschen, denen früher selbst in der Kneipe keiner zugehört hat. Die blasen sich mit ihren Parolen auf. Da tut Aufklärung not, Sachlichkeit. Schauen Sie auf die Stimmung im Land. Überall wird gemeckert und genörgelt. Das Internet ist voll davon. Fast hat es den Anschein, umso besser es den Leuten geht, umso unzufriedener werden sie. Man darf es ja kaum laut sagen, aber die Arbeitslosigkeit in Thüringen liegt niedriger als in großen Teilen des Westens. Ganz zu schweigen vom Ruhrgebiet. Das nennt man doch wohl Realitätsverlust? Guter Stoff für guten Journalismus. Doch der scheint mir eher hilflos. Luther hat das gut erkannt: Aus einem verzagten Arsch fährt kein fröhlicher Furz. Das sieht man den Zeitungen täglich an. Schade. Ich bin froh, dass ich das nicht verantworten muss.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Sergej Lochthofen und Theresa Brüheim
Sergej Lochthofen ist Journalist und Buchautor von "Schwarzes Eis" und "Grau". Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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