„Auf die Revolution von 1989 können wir stolz sein“

Thomas Oberender im Gespräch

 

Geht Ostdeutschen die Ellenbogenmentalität und der Ehrgeiz ab, um sich durchzusetzen?

Sie provozieren, oder? Sonst wäre das eine unverschämte Frage. Dieses ganze Ellenbogenbild ist ja ein Inbild des wirklichen Elends, das unsere Welt auffrisst, das unsere Gesellschaft entsolidarisiert hat, und das ist ungut bis in die Fingerspitzen. Davon haben sich die Ostdeutschen bis heute nicht erholt. 90 Prozent der ostdeutschen Mieten gehen an Westdeutsche. Wow, oder? Dahin haben die Ellenbogen geführt.

Haben wir das nicht 1989 ändern wollen? Und gehen deshalb nicht die jungen Leute freitags auf die Straße? Ich würde sagen: Ja, gegen diese Ellenbogen.

 

Viele Junge aus dem Osten gehen selbstbewusst ihren Weg. Da merkt man keine Unterschiede mehr. Sollten wir nicht aufhören, auf Kollektive zu schauen?

Ich sehe das anders. Ich sehe viele Junge aus dem Osten, die den Osten und die DDR plötzlich eine Generation später neu entdecken. „Freiraum“ in Leipzig, „Aufbruch Ost“, die „3te Generation Ost“, „88vier“ – sie wollen in unserem Land heute etwas ändern. Sie sehen in der DDR und Wendezeit nicht nur Verlierer, nicht nur Opfer und Täter, sondern auch Kreativität, den kulturellen Schatz ganz anderer Erfahrungen. Das wird uns heilen und verbinden. Kein Schlussstrich kann das.

 

Sie schreiben, dass Sie sich schon als Jugendlicher in der DDR viel mehr dem Westen kulturell verbunden fühlten. Werden Ostdeutsche erst durch die Zuschreibung dazu gemacht, ähnlich wie Migranten auf ihre Herkunft reduziert werden?

Zum Ostdeutschen wurde ich erst durch die Wiedervereinigung gemacht, als alles, was meine Lebenswelt ausmachte, sich auflöste, sprichwörtlich: von der Dachrinne bis zum Lichtschalter, vom Verkehrsschild bis zu meinen Lehrbüchern. Und dann haben wir ja angeblich alle nur Bananen, Kohl und die D-Mark gewollt und konnten kein Englisch. Richtig dazu gemacht worden sind Leute wie ich jedoch durch die AfD und Pegida, als wir dachten: Es kann doch nicht sein, dass das jetzt Ostdeutschland repräsentiert. Und so habe ich versucht, mir meine eigene Lebensgeschichte wieder zurückzuerobern, die natürlich die von vielen Menschen war – gegen diese Dunkel-Deutschland-Bilder aus Dresden und Chemnitz, aber auch gegen die offizielle Sprache der Politik und Medien in der westdeutsch dominierten Berichterstattung über den Osten.

 

Sie sprechen von einer kolonialen Matrix. Ist es nicht das gleiche kolonialistische Denken, wenn Linke und Grüne Ostdeutschen pauschal unterstellen, sie seien Nazis?

Robert Habeck hat ja die Ostdeutschen nicht mit Nazis gleichgesetzt, sondern mit einem Entwicklungsland im Sinne der Demokratie, was er, glaube ich, sehr bedauert. Weil diese paternalistischen Gesten heute sofort Alarm auslösen. Und so ist es ihm an sich selber aufgefallen. Denn ja, auch die besten Absichten können zu Bevormundung, Herabsetzung und Entmündigung führen. Das steckt tief drin in allen Menschen. Es gibt nicht den bösen Westen, der in den guten Osten kam. Viele im Osten waren für Infantilisierungen hochgradig empfänglich. Die ehrgeizigen Politiker und Berater aus dem Westen haben sie dann eben an die Hand genommen und eine Kinderstube geschaffen.

 

Welche Chance sehen Sie, nach all den Jahren noch ein unbefangenes Gespräch zwischen Ost und West in Gang zu bringen?

Oh, das fängt gerade an. Der Ton hat sich verändert. Das ist gut. Edmund Stoiber hat noch 2002 gesagt, es könne ja nicht sein, dass erneut die Frustrierten aus Ostdeutschland bestimmen, wer Kanzler wird. Aber es wächst eine neue Generation heran, die einen anderen Blick auf die ostdeutsche Lebensgeschichte entwerfen. Eine neugierige, auch empathische Perspektive.

 

Welchen Beitrag dazu können Künstler, Schriftsteller, Theaterleute und Ausstellungsmacher leisten?

Einen großen. Im Gegensatz zur Abschaffung der ostdeutschen Wirtschaft oder Wissenschaft hat die kulturelle Entwicklung nach der Wende an kulturelle Positionen der DDR anknüpfen können. Die Volksbühne in Berlin war für gut 25 Jahre das bedeutendste Theater Europas. Der einzige Ort, wo Wiedervereinigung auf Augenhöhe stattgefunden hat. Unsere Aufgabe heute ist es sicher, den westdeutschen Kanon in der bildenden Kunst gesamtdeutsch zu formen und zu lockern, aber auch den ostdeutschen, der bis heute jene Avantgarde marginalisiert, die der DDR-Staat unterdrückt hat.

 

Kann die Kultur Avantgarde sein, um nachträglich einen Stolz darauf zu entwickeln, was die Menschen im Osten geschafft haben, in der DDR, in der Revolution und seitdem?

Stolz, das ist auch nur ein Stück Butter auf dem Kopf. Das riecht nach Ostalgie.  Aber unsere Erinnerungskultur sollten wir schon verändern. Die Opfer müssen ein Gesicht bekommen, und die Täter auch. Nur vergessen wir darüber die Erinnerung des Widerstands. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für die Gegenkräfte, ihren Witz und Mut. Wo bleiben die Humanisten, die bewusst in der DDR geblieben sind? Hermann Glöckner, Gabi Stötzer. Auf die Revolution von 1989 können wir stolz sein, wenn wir dem Angriff auf die Demokratie von heute Paroli bieten, insbesondere all den gutbürgerlichen Totengräbern mit ihrer Agenda aus dem „intellectual dark web“. Das hat mit Ost-West nichts mehr zu tun, da geht’s um Weimar.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.

Thomas Oberender & Ludwig Greven
Thomas Oberender ist Direktor der Berliner Festspiele. Er ist Autor von „Empowerment Ost. Wie wir zusammen wachsen“ (Klett-Cotta Verlag 2020). Ludwig Greven ist freier Publizist und Autor.
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