Die alten und neuen Arbeiterklassen

Industriekultur und Strukturwandel in den vergangenen 50 Jahren

 

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verwandelte sich die Arbeiterklasse „von den Armen zum Volk“, wie das die britische Forscherin Selina Todd nennt, die eine große Studie über die realen arbeitenden Klassen geschrieben hat. Justin Gest, ein amerikanischer Forscher, der Feldstudien unter den arbeitenden Klassen im US-Mittelwesten und in London machte, spricht davon, dass diese Arbeiterklassen im Laufe des 20. Jahrhunderts in das „Zentrum des Bewusstseins“ ihrer Nationen rückten. Sie machten einen Aufstieg, hatten politische Repräsentation und konnten Respekt für ihre Werte einfordern, etwa, dass jedem für harte Arbeit eine Gegenleistung zusteht, dass die „einfachen Leute“ ein Stück vom Wohlstand abbekommen sollten und so weiter. Die Arbeitsbeziehungen in der Fabrik stifteten Solidarität und sie griff auch auf das sonstige soziale Leben über, etwa auf Freizeitaktivitäten. Man grillte mit den Kollegen am Wochenende, die Männer gingen zu den Spielen der lokalen Fußballvereine.

 

Zugleich waren diese „arbeitenden Klassen“ natürlich nie so homogen, wie sie im Rückblick scheinen. Deswegen meinen ja nicht wenige Historiker – auch auf die Arbeiterklasse der Vergangenheit gemünzt –, dass der Begriff der „arbeitenden Klassen“ – also im Plural! – viel zutreffender wäre.
Es ist auch eine moderne Mythologie, wenn man aufgrund des Strukturwandels weg von der gewerblichen Großfabrik von einem Verschwinden der arbeitenden Klassen sprechen würde. Sie existieren immer noch und sie sind wie je heterogen, nicht homogen. Wer gehört heute dazu? Die Arbeiter bei Mercedes in Stuttgart oder bei MAN in Nürnberg. Die Köche in unserem Lieblingsrestaurant. Die Kindergärtnerin. Verkäufer im Supermarkt, die Frauen, die die Regale auffüllen. Das Pflegepersonal im Spital. Der Mann, der unsere Heizung wartet. Die Beschäftigten am Bau, vom Maurer bis zum Polier. Der Mechatroniker im mittelständischen Exportunternehmen. Die Leute von der Müllabfuhr und die Busfahrer. Der Lehrer in der Grundschule. Die junge Frau im Call-Center. Die Technikerin bei der Mobilfunkfirma. Die Burschen, die die elektrischen Tretroller einsammeln und aufladen. Die Programmierer und Designer, die stundenlang im Büro hinter dem Computer sitzen. Die prekäre Datenverarbeiterin. Der Azubi. Der Lkw-Fahrer. Die junge Teilzeitkraft im Fast-Food-Restaurant.

 

Gabelstaplerfahrer. Dachdecker. Die Leute vom E-Werk, die die Leitungen legen, die Frauen und Männer von der Telekom, die das Breitband in den Häusern hochziehen. Die Paketschupferin bei Amazon. Die Zugbegleiterin bei der Deutschen Bahn. Der Monteur mit Eigenheim. Der Erntehelfer. Die Ganztagespflegerin aus Bulgarien. Der arbeitslose Fiftysomething, der in seiner dritten sinnlosen Umschulungsmaßnahme steckt. Der Prekäre, der sich durchkämpft.

 

Wenn wir auf die historischen Industriedenkmäler blicken wie auf stählerne oder steinerne Zeugen einer vergangenen Kultur, sollten wir auf die Geschichten der Menschen achten, die hier arbeiteten – und auf die Geschichten jener Menschen, die heute die arbeitenden Klassen bilden. Diese Geschichten kommen in unseren öffentlichen Debatten praktisch nicht vor. Die Menschen sind unrepräsentiert, ihre Hoffnungen, ihre Lebenswelten und auch ihr Leid, sie sind in den heutigen politischen Diskursen oft nicht einmal artikuliert.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Robert Misik
Robert Misik lebt als Autor, Ausstellungsmacher und Veranstaltungskurator in Wien.
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