Kultur ist das, worauf wir aus einer historischen Distanz zurückblicken. Die „Kultur“ der Gegenwart ist meist zu amorph, zu widersprüchlich, zu ungeklärt, um sie auf einen Begriff zu bringen. In diesem Sinne ist auch der Begriff der „Industriekultur“ einer, der den Verdacht nahelegt, diese wäre Vergangenheit. In der Hochphase des industriellen Zeitalters mit seinen Bezugspunkten – Großfabrik, industrielle Arbeitsbeziehungen, Industrieproletariat als scheinbar relativ homogene Bevölkerungsgruppe –, hätte wohl kaum jemand von „Industriekultur“ gesprochen.
Der Begriff der Industriekultur evoziert auch eine Reihe von Vorannahmen: dass mit einer Produktionsweise und den mit ihr verbundenen sozialen Beziehungen auch eine „Kultur“ einhergeht. Eine Lebenskultur etwa, aber auch ein Set an Gerechtigkeitsnormen und Werten, und auch eine materielle Kultur, etwa die Ästhetik der Fabriken. Große Backsteinkomplexe in den Städten, die heute entweder abgerissen sind oder einer anderen Verwendungsweise zugeführt, die großen Fabrikschlote, die Hochöfen in den Stahlwerken außerhalb der großen Städte usw.
Industriekultur ist daher auch etwas, was heute ausgestellt wird: in den Arbeitsweltmuseen, im Rahmen der Industrierouten. Industriekultur, das ist heute bisweilen „Industrial Porn“, verfallene Industrieruinen, die als coole Fotolocations taugen, oder „Industrial Design“, Vintageästhetik.
Heute herrschen ein paar Grundannahmen vor, oft sind es auch nicht mehr als Schlagworte. Dass wir in der „postindustriellen Gesellschaft“ leben, eine, in der die alte „Arbeiterklasse“ untergegangen ist. Dass wir im Westen einen Prozess der „Deindustrialisierung“ hinter uns haben. Gerne ist auch von der „Dienstleistungsgesellschaft“ die Rede. Vor bald 40 Jahren schrieb André Gorz, der französische Sozialphilosoph, vom „Abschied vom Proletariat“.
Seit den 1970er Jahren gingen in allen früheren Industriestaaten Millionen gewerbliche Arbeitsplätze verloren, deutlich weniger Arbeitnehmer arbeiten in Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten, die Zahl der Arbeiter in der Industrie schrumpfte in absoluten Zahlen, und sie schrumpfte noch rasanter in relativen Zahlen: Immer mehr Beschäftigten stehen immer weniger industrielle Arbeiter gegenüber. Man darf aber deswegen auch nicht dem Irrtum erliegen, dass bei uns „überhaupt nichts mehr produziert wird“. Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung sind nicht nur nach Südostasien oder Osteuropa abgewandert, sie sind auch durch Automatisierung ersetzt worden. Nicht selten haben wir es auch nur mit statistischen Effekten zu tun.
Der deutsche Wirtschaftshistoriker Lutz Raphael hat die vergangenen Jahrzehnte dieses Strukturwandels jüngst in seiner phänomenalen Studie „Jenseits von Kohle und Stahl“ beschrieben. Zunächst bedeutet Deindustrialisierung, auch dann, wenn sich Industrien behaupten können, den Verlust von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe. Und der ist „aufs Engste mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität verbunden“, so Raphael.
Für Deutschland heißt das: Manche Industrien gingen weitgehend unter – Stahl, Werften, Bergbau, Textilindustrie –, andere konnten sich behaupten, in Westeuropa etwa die Chemieindustrie, die Elektroindustrie, Maschinenbau, Automobilbau, Rüstung, Luftfahrt. Aber auch diese Industrien erlebten massive Rationalisierungswellen.
Die brutalen Strukturkrisen kennen wir alle aus den Nachrichten – oder zumindest die Älteren unter uns: die Krise der Stahlindustrie im Saarland, der Untergang des Bergbaus im Ruhrgebiet, die Werftenschließungen an der Küste. Und oft hört man, wenn man diese Regionen besucht, ein paar Jahre später Sätze wie: „Wir haben den Strukturwandel geschafft“. Doch immer noch steckt das Trauma ganzen Städten in den Knochen.
Das betrifft die Industrieregionen in der Steiermark in Österreich genauso wie etwa eine Stadt wie Steyr in Oberösterreich. Hier waren die Steyr-Daimler-Puch-Werke jahrzehntelang das Leitunternehmen, sie gehen zurück auf die Josef Werndls Waffenfabrik aus dem 19. Jahrhundert. Ab Ende der 1980er Jahre ging es mit dem Unternehmen bergab, bis es filetiert wurde. Die Panzerproduktion wurde eingestellt, Sturmgewehre werden jetzt von einem eigenen Unternehmen für den Weltmarkt produziert, MAN übernahm den Nutzfahrzeugsektor, BMW die Motorenproduktion. SKF produziert Kugellager. Aber über die gesamten vergangenen 30 Jahre hörte der Strukturwandel nicht auf. Die Krise bestimmte sein ganzes Leben, erzählt Ernst Schönberger, ab den 1990er Jahren Betriebsrat bei MAN. „Einige Jahre lang sind regelmäßig Hundertschaften an Beschäftigten entlassen worden“, erzählt er. „Die Angst ist nie mehr weggegangen.“In einer Industriestadt wie Nürnberg in Bayern hört man ganz ähnliche Geschichten wie in Steyr. „Die Menschen waren über Jahre mit der Verarbeitung des Leids beschäftigt“, erzählt Olaf Klumpp-Leonhardt. Der große, drahtige Mann war fast zwei Jahrzehnte in verschiedenen Funktionen in der Verwaltung damit befasst, die Stadt aus der Krise zu führen. „Massenarbeitslosigkeit war plötzlich ein Phänomen“, erinnert Klumpp-Leonhardt sich an die 1980er Jahre. Es begann mit dem Untergang der Firma Triumph-Adler, ging weiter mit der Pleite von Grundig, dem Kollaps legendärer Leitfirmen wie Quelle und dem radikalen Stellenabbau bei AEG. „Es gab mehr stilles Leiden statt großer Proteste.“Hinter Statistiken und Schlagzeilen gehen oft die Geschichten der Menschen verloren. Und unsere Vorstellungen von Industriekultur sind oft von der materiellen Kultur geprägt. Wenn wir vor einer Dampfmaschine stehen, erschlägt der Eindruck des Artefakts schnell jede Geschichte jener, die rund um die Maschine arbeiteten. Oft haben wir vielleicht Klischeevorstellungen vor Augen: von männlichen Arbeitern im Blaumann, die in den 1930er, 1940er oder 1950er Jahren in langen Kolonnen in die Fabrik gehen. Diese Vorstellungen prägen das retrospektive Bild von der historischen industriellen Arbeiterklasse.