Es sind immer Raum und Zeit

Edgar Reitz über seine Trilogie "Heimat"

 

Nachdem Sie in drei großen Filmfolgen das 20. Jahrhundert in unterschiedlicher Chronologie durchmessen hatten, kam 2013 der Film „Die andere Heimat“. Sie greifen weiter zurück in die Geschichte, ins 19. Jahrhundert, als Hunsrücker in erheblicher Zahl nach Brasilien auswanderten. Ist dieser Stoff verwoben mit dem Heimatbegriff der ersten drei Folgen?
Die Erinnerung an diese große Auswanderungswelle lebte im Hunsrück schon immer. Mir war als Kind bekannt, dass es in der eigenen Familie solche Auswanderer gegeben hat, mit denen zum Teil auch nach mehreren Generationen noch Kontakte bestanden. Diese Geschichte steckte in mir. Und während der Dreharbeiten von „Heimat Eins“ tauchten ganz gegen Ende, bei den Dreharbeiten der Schlussepisode, zwei Brasilianer im Dorf auf. Sie waren auf der Durchreise. Ich fand es erstaunlich, dass die sofort anfingen, die Steine des Mauerwerks zu untersuchen und sich die Frage zu stellen: Was sind Schiefersteine? Das ist das Wort, was der Opa in Brasilien immer gesagt hat, aber in Brasilien gab es keine Schiefersteine. Das waren persönliche Erinnerungen. In der Zeit nach den drei großen Filmblöcken hatte ich das Gefühl, diese Geschichte bedarf noch einer Erzählung. Ich fragte mich: Was ist der tiefste Grund für diese Auswanderungswelle? Warum wollten die alle weg aus der Heimat? Wo ich doch auch weg wollte aus der Heimat – auf eine ganz andere Weise.

 

Sie sind als junger Mensch nach München gegangen.
Da kam ich auf den Begriff der Sehnsucht. Deswegen heißt es ja auch „Chronik einer Sehnsucht“. Sehnsucht ist ein mit romantischen Vorstellungen erfülltes deutsches Wort. Auch nicht so leicht zu übersetzen in andere Sprachen. Es gibt dazu kaum Analogien.

 

Menschen verlassen endgültig die alte Heimat, man kommt nicht so eben mal von Brasilien zurück. Sie haben festgestellt, dass in der Distanz sich die alte Heimat in gewisser Weise zu einer geronnenen Vorstellung verfestigt.
Das verband mich mit diesen Brasilianern. Auch ich hatte eine geronnene Vorstellung. Den Hunsrück, aus dem ich komme, gibt es nicht. Das war immer wieder meine schmerzhafte Erfahrung, selbst bei dieser innigen Berührung, mit einem Riesen-Filmteam dort anzukommen und zu sagen: Ich erzähle euch eure eigene Geschichte, indem ich meine Geschichte erzähle und bin somit einer von euch. Und doch war ich keiner von ihnen. Ich erzählte ihnen auch nicht ihre eigene Geschichte. Sie haben die Geschichte des Films, als er Erfolg hatte, gern mit ihrer eigenen Geschichte verwechselt. Aber Heimkehr in diesem Sinne gibt es nicht.

 

Wie geht das zusammen, alte und neue Heimat? Kann man mehrere Heimaten gleichzeitig in sich tragen?

„Zweite Heimat“ ist der Begriff, den ich über die zweite große Staffel gesetzt habe. Das ist die Zugehörigkeit, die wir selbst wählen. Zu Beginn dieser Geschichte sagt Hermann Simon: „Man wird zweimal geboren. Das erste Mal aus seiner Mutter, und da kann man nichts dran ändern. Das zweite Mal aus einem eigenen Kopf.“ Die Heimat, die wir uns da schaffen, setzt sich aus immer mehr Einzelheiten und Zugehörigkeiten, auch Widersprüchlichkeiten zusammen zu etwas, was wir letztendlich unsere Biografie nennen. Diese Heimat ist etwas wesentlich anderes als die erste, nicht gewählte Herkunftsheimat. Aber die Sehnsucht stammt aus der ersten. Die Sehnsucht nach unaussprechlichen, ich würde sagen, kindlichen, zumindest in einer gewissen Weise unschuldigen, frühen Erfahrungen, die mit dem Gefühl der Grenzenlosigkeit und Geborgenheit verbunden sind. Auch wenn wir ins Neue aufbrechen. Da bleibt immer diese assoziative Verbindung mit einem unbewussten früh gemachten Erfahrungshintergrund.

 

Als Sie mit der Arbeit an der Heimat-Trilogie begannen, war das ein gesellschaftlicher Aufbruch. Bis dahin herrschte ein zum Teil revanchistischer, reaktionärer, verlustbesetzter Heimatbegriff vor. Wie nehmen Sie es wahr, dass in der jüngeren Vergangenheit im Zusammenhang mit Globalisierung und Migration wieder eine Heimatdebatte einsetzt, die zum Teil sehr aggressiv und angstbesetzt geführt wird?
Das ist ein Abgrenzungsbedürfnis. Dieses Abschottungsbedürfnis ist eine Mischung aus Angst und Unwissenheit. Aber wer sich mit Heimat beschäftigt, darf keine Angst haben. Heimat ist kein Ort des Besitzes und der Zuflucht. Heimat ist immer etwas, was wir verlieren. Als Kindheitserfahrung verlieren wir es dadurch, dass wir erwachsen werden, dass wir den Horizont ausweiten und mit jedem Hinzugewinn an Wissen und Handeln über den Rahmen, den wir schon kennen, hinausgehen. Irgendwann sind wir nicht mehr die Bewohner unserer ursprünglichen Heimat, sondern wir sind hinausgewachsen oder hinausgegangen. Was da bleibt, ist Erinnerung. Und was in der Erinnerung bleibt, sind diese sehr schwer benennbaren Empfindungen, die ich versucht habe als eine emotionale Hintergrundfläche zu beschreiben. Wenn wir uns diesem Sehnsuchtsgebilde „Heimat“ wieder nähern wollen, machen wir die Erfahrung, dass es diese Heimat konkret und real nicht mehr gibt. Sie ist immer ein Teil der Erinnerung, aber niemals so, wie wir sie suchen, konkret vorhanden. Was in vieler Hinsicht Gründe hat. Es muss auch so sein. Wir würden ja allen, die uns nicht auf dem Lebensweg begleiten, jegliche Entwicklung verbieten, wenn wir von ihnen verlangen, dass ich mich ändere, die aber nicht. Selbst die Mutter, selbst die nächsten Angehörigen haben eine eigene Lebensgeschichte und sind nicht mehr genau gleich. Die Emotionen können das sehr fein unterscheiden, was sich verändert, und bekommen ein Gefühl der Fremdheit. Bei jedem Versuch der Heimkehr wird Fremdheit erfahren. Deswegen sage ich, es gehört Mut dazu, denn das tut weh.

 

Ist unter den Bedingungen einer fortschreitenden Globalisierung und Allgegenwärtigkeit von Kommunikationsmöglichkeiten, Heimat in dem Sinn, wie wir sie noch kennengelernt haben, zukünftig möglich? Oder ist ein ganz anderer Heimatbegriff möglich? Heimat als Ort im Internet, in Social Media?
Das bezweifle ich. Ziemlich vage kann ich mir vorstellen, dass die Menschheit ein Heimatgefühl zu ihrem Planeten entwickelt. Wenn man von der Raumstation ISS aus dem Orbit heraus Bilder und Nachrichten bekommt oder unser deutsche Astronaut Alexander Gerst mitteilt: „Die Dürre über Norddeutschland ist erschreckend, von hier oben aus gesehen“, bekomme ich ein planetarisches Gefühl. Die Entfernungen schrumpfen zusammen. Das Ding rast in anderthalb Stunden einmal rundum. Da ist es so weit wie von Schabbach nach Simmern, einmal um die Welt. Es wäre ein Traum, dass die Menschheit sich als Bewohner des Planeten fühlt und eine Heimatliebe zu diesem blauen schönen Planeten entwickelt.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

Edgar Reitz & Hans Jessen
Edgar Reitz ist Autor und Filmregisseur. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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