„Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien“

Musik von verfemten, vertriebenen und ermordeten Komponisten

Warum Musik von verfemten, vertriebenen, ermordeten Komponistinnen und Komponisten? Ich werde immer wieder nach meinen Intentionen gefragt und meistens ist die erste Antwort: „Weil es gute Musik ist!“ Natürlich ist die zweite Antwort jene der ethischen und moralischen Verantwortung denen gegenüber, welche niemals die Chance hatten, im selben Maße an die Öffentlichkeit zu treten, wie es ihnen bei einem anderen, humaneren Verlauf der Geschichte zugestanden wäre. Oder weil sie eine bereits begonnene Karriere abbrechen mussten und neu – vielleicht in einer ganz anderen „Branche“ – anfangen mussten. Oder weil sie – von ihren Wurzeln getrennt – in der Ferne, die ihnen aufgezwungen wurde und die sie nicht freiwillig aufgesucht haben, verstummten und keine musikalische Schöpfung mehr möglich war. Oder weil niemand sie gefragt hatte, ob sie zurückkehren wollten – weil dieselben, welche sie vertrieben haben, noch immer an den Hebeln der Macht saßen. Oder weil man nicht verstand, dass dieser kulturelle Exodus ein tiefes Loch in die Mitte Europas gerissen hatte. Oder weil man aufgrund der menschenvernichtenden Katastrophe stumpf geworden war gegenüber anderen Empfindungen und Hoffnungen. Der Wiederaufbau nach dem barbarischen Wahnsinn hatte nur den Gebäuden gegolten, nicht jenen beschädigten und zerschlagenen Wurzeln der Musik, der Literatur, des Films, der Malerei, des Schauspiels und der Wissenschaft.

 

Hier nur eine kleine, wirklich kleine Auswahl der Vertriebenen und Verfemten aus dem Bereich der Musik: Maria Jeritza, Sängerin, 1935 Emigration in die USA; Lotte Lehmann, Sängerin, 1933 Auftrittsverbot in Deutschland, 1938 Emigration in die USA; Richard Tauber, Sänger, 1938 Emigration nach Großbritannien; Hanns Eisler, Komponist, 1933 Flucht aus Deutschland in die Sowjetunion, 1936 Spanien, 1937 Emigration in die USA; Emmerich Kálmán, Operettenkomponist, 1938 Emigration nach Frankreich und in die USA; Erich Kleiber, Dirigent, 1936 Emigration nach Argentinien; Erich Wolfgang Korngold, Komponist, 1936 USA, kann 1938 nicht mehr nach Österreich zurückkehren; Ernst Krenek, Komponist, 1938 Emi-gration in die USA; Hermann Leopoldi, Komponist und Klavierhumorist, 1938 nach Dachau und Buchenwald deportiert, 1939 Emigration in die USA; Alma Maria Rosé, Geigerin, 1938 Emigration nach Großbritannien, 1939 Verhaftung in Frankreich, Deportation nach Auschwitz und Birkenau; Arnold Rosé, Primgeiger der Wiener Philharmoniker, 1938 Emigration nach Großbritannien; Marcel Rubin, Komponist, 1938 Emigration nach Frankreich, später Mexiko; Arnold Schönberg, 1933 Entlassung und Emigration über Frankreich und Spanien in die USA; Erwin Stein, Dirigent und Schüler Arnold Schönbergs, 1938 Emigration nach Großbritannien; Ernst Toch, Komponist, 1933 Emigration nach Großbritannien und in die USA; Bruno Walter, Dirigent, 1933 Emigration nach Österreich, 1938 nach Frankreich und in die USA; Egon Wellesz, 1938 Emigration nach Großbritannien; Alexander von Zemlinsky, Komponist, 1938 Emigration in die USA.

 

Der Titel der Ausstellung des exil.arte Zentrums „Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien“ ist einem Gespräch mit Robert Fürstenthal entnommen und spiegelt wahrscheinlich das Gefühl vieler verfemter Kunstschaffenden wider, die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden. exil.arte wurde 2006 als Verein ins Leben gerufen, seit 2016 ist es Teil der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Das neu errichtete Zentrum ist weltweit die einzige Institution, die die Funktionen eines Archivs von Exilmusik mit einer vielfältigen Öffentlichkeitsarbeit verbindet. Das Zentrum beschäftigt sich vorrangig mit Komponisten, Musikern und anderen verwandten Berufsbildern wie Verlegern, Mäzenen etc., die von den Nationalsozialisten verfemt, ermordet oder vertrieben wurden. Die Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten sind in aller Welt verstreut, viele sind noch in Privatbesitz. Das exil.arte Zentrum ist bestrebt, diese wichtigen historischen und musikalischen Quellen nach Wien zu holen und diese nicht nur wissenschaftlich aufzubereiten, sondern auch in Ausstellungen, Publikationen, Workshops, Konzerten etc. der Öffentlichkeit zu präsentieren.

 

Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen bereits die Materialien des exil.arte Zentrum. Selbstverständlich sollen in Zukunft die Materialien auch online eingesehen werden. Eine digitale Plattform ist in Arbeit.

 

Im Jahr 2017 sind vier Nachlässe unterschiedlicher Größe im Archiv eingetroffen von Hans Gál, Julius Bürger, Robert Freistadtl und Jan Urban. 2018 folgten sodann die Nachlässe bzw. Teilnachlässe von Theo Buchwald, Richard Fuchs, Gustav Lewi, André Singer, Hans Winterberg, Egon Lustgarten, Anita Bild, Wilhelm Grosz und Walter Bricht. Weitere Nachlässe werden in den nächsten Monaten bereits erwartet.

 

Über das Leben und das Werk des bereits 99-jährigen Komponisten Walter Arlen, der 1939 aus Wien geflohen war und in den USA als Musikkritiker und Leiter eines Musikdepartments in LA tätig war, wurde mit Hilfe des exil.arte Zentrums der Film „The First Century of Walter Arlen“ gedreht, der bereits in Österreich, Israel, den USA und Kanada erfolgreich bei Festivals gelaufen ist, und der in besonders bewegenden Bildern das Leben eines Vertriebenen aufzeigt.

 

Warum also Musik von verfemten, vertriebenen, ermordeten Komponistinnen und Komponisten? Vielleicht ist es die Neugierde auf Unbekanntes, Unerwartetes und unglaublich Schönes. Die Konzerte sind immer wie eine Entdeckungsreise, auf die wir uns nur einlassen können, wenn wir unseren Ballast an Stilvorbehalten beiseitelassen. Das Leben und die Musik vor der großen menschenverachtenden Katastrophe, heraufbeschworen von grausamen, rassistischen Ideologien, war bunt, vielfältig und voller spannender neuer Eindrücke. Auch voller stilistischer Gegensätze, warum nicht? Diese Buntheit spiegelt sich auch in den Komponistenpersönlichkeiten Korngold, Schönberg und Weill, aber ganz besonders in jenen Personen, die es noch zu entdecken gilt. Genießen wir Musik, welche für sich selbst spricht. Einfach gute Musik.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.

Gerold Gruber
Gerold Gruber ist Gründer von exil.arte und Leiter des exil.arte Zentrum der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Vorheriger ArtikelAderlass kulturellen Reichtums
Nächster ArtikelProbleme kommen mit ihren Lösungen