Der Generalsekretär des Deutschen Musikrates Christian Höppner berichtet Theresa Brüheim über Musiker im Exil – damals und heute.
Theresa Brüheim: Nach dem heutigen Kenntnisstand sind rund 4.000 Musiker bekannt, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen mussten. Musik bezeichnet man gemeinhin als universelle Sprache. Hatten die Musikschaffenden, die ins Exil gehen mussten, es einfacher als Schauspieler, Literaten und andere Kulturschaffende ihre Kunst, ihre Musik fortzuführen?
Christian Höppner: Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten waren viele Musiker in ihrer Existenz bedroht und wurden ins Exil gezwungen. Aufgrund der NS-Rassengesetze hat es besonders Musiker jüdischer Herkunft betroffen. Aber auch das Weltbild und die Kunstanschauung der Nationalsozialisten zwangen viele Künstler ins Exil. Ich nenne nur das Stichwort „entartet“. Schlichtweg auch eine missliebige politische Einstellung war ein Grund für die Flucht ins Exil. Dass es für Musiker im Exil aufgrund der universellen Sprache der Musik einfacher war, lässt sich nicht belegen. Oftmals würden sie als diejenigen wahrgenommen, die es „geschafft“ hatten, dem Nazi-Regime zu entkommen, ohne dass das öffentliche Bewusstsein für die Tragweite traumatischer Fluchterfahrungen immer erkennbar war. Für Deutschland war die Emigration ein unglaublicher Aderlass kulturellen Reichtums.
Können Sie exemplarisch erläutern, wie sich Karrieren von Musikschaffenden im Exil gestaltet haben?
Der Karriereverlauf hing im Allgemeinen stark von den Strukturen der Musikbetriebe der Exilländer ab. England oder Frankreich hatten zu dieser Zeit ein gut ausgebautes Musikwesen. Allerdings herrschte große Konkurrenz. Außerdem mussten die Musiker dort durchaus mit Arbeitsverboten rechnen. Insgesamt war der kulturelle Reichtum Deutschlands bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten weltweit angesehen. Dadurch waren deutsche Künstler auch in Japan, der Türkei oder Südamerika häufig sehr willkommen. Auch in der Sowjetunion gab es bis etwa 1936 ein bedeutendes Zentrum des Musikexils rund um die Dirigenten Kurt Adler oder Hans Walter David. Als bedeutendstes Exilland sind sicher die USA zu nennen – mit Paul Hindemith, Hanns Eisler, Paul Dessau. Besonders nachgefragt war Hollywood. Allerdings war da die Konkurrenz sehr groß, weil Hollywood ein Anziehungspunkt für alle Emigranten war. Die Exilierten verbreiteten im Exil oft europäische Musikkultur. Das umfasste sowohl Aufführungstradition und -praxis als auch musikwissenschaftliches Methodenwissen. Im Besonderen ist als Beispiel Kurt Weill zu nennen. Er wurde als einer der Hauptrepräsentanten der entarteten Musik diffamiert. Er wollte sich im Exil von Deutschland lossagen. Er verließ Deutschland 1933, ging zunächst nach Paris. Eines seiner bekanntesten Werke aus dieser französischen Zeit sind „Die sieben Todsünden“. 1935 ging er in die USA, war in Hollywood und nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Hanns Eisler. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ich bin kein Held, ich bin ein Komponist“. Eisler ging 1938 auch in die USA. Dort musste er ein Gerichtsverfahren durchstehen, weil ihm die Behörden vorwarfen, dass er in Deutschland Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei. Letztlich musste er die USA, wo er viele seiner bekanntesten Werke geschrieben hat, verlassen. Sein zweites Exil fand er in der DDR und in Wien. Ein letztes Beispiel, das mir am Herzen liegt, ist Karl Amadeus Hartmann. Er hat den Rückzug ins innere Exil angetreten hat. Er blieb in München und komponierte zwölf Jahre lang fast ausschließlich für die Schublade. Einige Werke erklangen in dieser Zeit zwar im Ausland, aber auch nur dort. So hat er z. B. „Miserae“ komponiert, eine sinfonische Dichtung zum Gedenken der ersten im KZ Dachau ermordeten Häftlinge. Das war die erste dezidierte antifaschistische Komposition überhaupt. Die Widmung dazu lautet: „Meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten, die für die Ewigkeit schlafen. Wir vergessen euch nicht. Dachau 1933 bis 1934.“ Kurz danach entstand die Oper „Simplicius Simplicissimus“, die den Nationalsozialismus mit den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges spiegelte. Es lässt sich kaum ermessen, welche inneren Qualen er litt: schöpferisch tätig zu sein – ohne Publikum. Nach Kriegsende gründete er die Konzertreihe „Musica Viva“, um die verfemte musikalische Moderne aus dem Hautgout des Nationalsozialismus rauszureißen. Diese Konzertreihe gibt es heute noch.
Werfen wir einen Blick in die Gegenwart: Inwieweit finden professionelle Musiker, die heute in Deutschland im Exil leben, Zugang zum Musikmarkt?
Es gibt z. B. ein Exilorchester, was professionelle syrische Musiker gegründet haben. In dem Ensemble spielen syrische Flüchtlinge, die in Deutschland oder anderen europäischen Ländern leben. Da gibt es eine Vernetzung über die nationalen Grenzen hinaus. Es gibt Einzelbeispiele wie den Geiger Ahmet Tirgil, der in Berlin lebt. Er wurde in der Türkei suspendiert, weil er Mitglied einer Lehrergewerkschaft war, die sich für das Ende des Krieges in der Osttürkei ausgesprochen hatte. Weil er auf internationalen Bühnen spielte, hatte er ein Visum und konnte ins Exil gehen.
Insgesamt ist der Zugang zum professionellen Musikleben noch dünn gesät. Oft kommen Musiker mit in ihrem Herkunftsland traditionellen Instrumenten nach Deutschland, die sich dann in das klassische Repertoire und die professionellen Strukturen noch nicht einbinden lassen. Ich sehe das als Bereicherung und hoffe, dass in Zukunft mehr Zugänge geschaffen werden. Gerade Berlin ist als weltoffene Kulturmetropole ein wichtiger Zufluchtsort. Auch die große türkische Community gilt als besonderer Anziehungspunkt. Es gibt viele Einzelaktivitäten, die ich bemerkenswert finde. Z. B. hat das Goethe-Institut in 2016 einen temporären Kunstraum für syrische Musiker, Filmemacher, Schriftsteller und Fotografen in Berlin eröffnet. Oder „Die Tage des Exils“ in der Elbphilharmonie im vergangenen Jahr mit dem aus der Türkei stammenden Journalisten Can Dündar und dem Syrian Expat Philharmonic Orchestra.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.