Ein nationales Hobby

Die Bedeutung der Archäologie für Israels Selbstverständnis

Die bedeutendste Leistung des Zionismus bestand in der Förderung der Masseneinwanderung von Juden in die südliche Levante, das Gebiet, in dem während der Zeit des Ersten Tempels – ca. 1000 bis 586 v. Chr. – die biblischen Königreiche Judäa und Israel entstanden. Die Folge davon war die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund verwundert es nicht, dass man sich der Archäologie bediente, um eine Verbindung zwischen den Neuankömmlingen und dem „Land unserer Väter“ herzustellen. Viele in den führenden Kreisen der Zionismus-Bewegung waren säkulare Menschen, die das in der jüdischen Diaspora vorherrschende und auf dem Talmud basierende theologische Paradigma ablehnten, welches die hebräische Bibel zur neuen Richtschnur machte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging die Entwicklung des Zionismus Hand in Hand mit der der Archäologie. Die ersten in der Region tätigen Archäologen waren überwiegend Europäer oder Amerikaner christlichen Glaubens, die aus nationalem, theologischem oder wissenschaftlichem Interesse an Ausgrabungen teilnahmen. In diesem Zusammenhang kommt William Foxwell Albright, der das Konzept der biblischen Traditionen mit archäologischen Epochen verbindenden „Biblischen Archäologie“ ersann, eine herausragende Bedeutung zu.

 

Die Aktivitäten der ausländischen Archäologen in der Region wurden von der dortigen jüdischen Bevölkerung mit großem Interesse verfolgt, und im Jahre 1914, als die Region noch Teil des Osmanischen Reiches war, kam es zur Gründung der „Jewish Palestine Exploration Society“, der heutigen „Israel Exploration Society“. Als in den 1920er Jahren die Hebräische Universität Jerusalem gegründet wurde, waren archäologische Aktionen ein wichtiger Teil des angestrebten wissenschaftlichen Programms. Die ersten von der Universität initiierten Ausgrabungen fanden 1929 statt, und 1934 wurde das Institut für Archäologie gegründet.

 

Nach 1948 trat ein bedeutender Wandel ein. Archäologie wurde zum „nationalen Hobby“ des neuen israelischen Staates und seiner Bevölkerung. Die Logik dahinter war denkbar einfach: Die Bibel dient als „Beweis“ für das Recht der Juden auf das Land, und die Archäologie liefert den „Beweis“ für die Bibel, was wiederum bedeutet, dass die Archäologie „beweist“, dass die Juden ein Recht auf das Land haben. Dieses Land wurde unglücklicherweise zum Zankapfel zwischen Israelis und Palästinensern. Selbst heute noch enthalten viele Pressemitteilungen über archäologische Funde in Israel den Satz: „Dies beweist, was in der Bibel steht“; und in Interviews mit Journalisten werde ich oft danach gefragt, inwieweit meine Ausgrabungen Beweis dafür sind, dass Israelis ein Recht auf das Land Israel haben.

 

Das große Interesse der israelischen Bevölkerung an Archäologie war in den ersten paar Jahrzehnten nach der Staatsgründung besonders ausgeprägt. Zu der Zeit richtete die „Israel Exploration Society“ jedes Jahr eine Archäologie-Konferenz aus, die jedes Mal in einer anderen Region stattfand und an der knapp tausend Menschen teilnahmen. An den Ausgrabungen von Masada waren Hunderte ehrenamtlicher Helfer beteiligt. In fast jedem Kibbuz gab es eine kleine Sammlung antiker Funde, die aus den umliegenden Feldern stammten. Im Sha’ar HaGolan-Kibbuz, auf dessen Areal ich ein großes Dorf aus der Jungsteinzeit ausgrub, wurde ein üppig ausgestattetes Archäologie-Museum mit Geldern aus deutschen Reparationszahlungen an Holocaust-Überlebende gebaut.

 

David Ben-Gurion, der erste Premierminister von Israel, verfolgte die archäologischen Aktivitäten mit großem Interesse und besichtigte die Ausgrabungen in Hazor und in der Judäischen Wüste. Innerhalb des zur offiziellen Residenz des israelischen Präsidenten gehörenden Bereichs wurde ein archäologischer Garten angelegt. Vor ein paar Jahren wurde ich von Premierminister Benjamin Netanjahu eingeladen und gebeten, ihm eine kürzlich entdeckte Inschrift aus der Zeit von König David zu zeigen. Da mittlerweile die meisten Israelis in Israel geboren wurden und sich als Teil von Israel fühlen, ist heutzutage das Bedürfnis nach Archäologie zur Bestätigung dieser Zugehörigkeit weniger ausgeprägt.

 

Die Bedeutung der Archäologie für die zeitgenössische israelische Kultur erkennt man an den Archäologie-Fakultäten, die es an jeder Universität und an vielen Colleges gibt. Viele Ausgrabungsstätten wurden zu Nationalparks, die jedes Jahr von Millionen von Menschen besucht werden. Nach meinen Ausgrabungen in Khirbet Qeiyafa, wo eine Festungsstadt aus der Zeit von König David entdeckt wurde, wurden Baupläne geändert. Der Bau einer Siedlung mit etwa 1.300 Wohnungen, deren Planung schon recht weit fortgeschritten war, wurde aufgegeben, und einem 400 Hektar großen Gebiet samt Ausgrabungsstätte wurde der Status eines Nationalparks eingeräumt.

 

Die Behörde für israelische Altertümer führt jedes Jahr ein paar hundert Rettungsgrabungen durch. Diese zeitintensiven Arbeiten befördern oft und in großem Umfang wichtiges Fundmaterial zutage, weswegen die Behörden eine PR-Abteilung unterhalten, die alle paar Tage eine Pressemitteilung veröffentlicht. Jede Universität veröffentlicht von Zeit zu Zeit Informationen zu ihren archäologischen Unternehmungen. Manchmal wird die israelische Öffentlichkeit fast ein wenig überwältigt von der Flut archäologischer Nachrichten.

 

Vor einigen Jahren initiierte Israel Hasson, der damalige Leiter der Israelischen Altertümerbehörde, ein Projekt zum israelischen Kulturerbe. Ganze Klassen israelischer Schüler wurden eine oder zwei Wochen lang bei Rettungsgrabungen bzw. bei Denkmalschutzarbeiten eingesetzt. In den letzten drei Jahren kamen auf diese Weise 350.000 Schüler mit dem reichen archäologischen Erbe des Landes in Kontakt. Mit dem Geld, das die Schüler für ihre Arbeit erhielten, wurden Klassenreisen zu Holocaust-Gedenkstätten in Polen kofinanziert.

 

Jedes größere Museum in Israel stellt archäologische Funde aus. Drei Museen in Jerusalem widmen sich der Archäologie: das Rockefeller Museum, das Israel Museum und das Bible Lands Museum Jerusalem. Im Israel Museum steht ein weitläufiges Areal für die ständige Ausstellung archäologischer Exponate zur Verfügung, die Besucher auf die bedeutendsten Archäologen aufmerksam macht. Zusätzlich organisiert das Museum zeitlich begrenzte Ausstellungen, die sich mit einer bestimmten Stätte oder einem bestimmten Thema befassen.

 

Zuweilen beeinflussen archäologische Objekte moderne künstlerische Ausdrucksformen. Die Statue Nimrod von Itzhak Danziger, die heute zum Kanon israelischer Kunst zählt, war von altägyptischen Skulpturen beeinflusst. Im Innenhof des Sha’ar HaGolan-Museums stehen drei von Tamara Rickman geschaffene Metallskulpturen, bei denen in der Nähe gefundene jungsteinzeitliche Figurinen Pate standen. In diesen Tagen findet im Bibel Lands Museum Jerusalem eine Ausstellung moderner Kunst statt, in deren Rahmen die Exponate in den Kunsthallen Seite an Seite mit Objekten aus der Antike gezeigt werden.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Archäologie in Israel stark auf verschiedenste Aspekte auswirkt – auf die Identität des Staates, auf die Bildung der Jugend, auf Nationalparks, auf Museen und auf die Kunst.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Renate Lagler-Thompson.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

Yosef Garfinkel
Yosef Garfinkel ist Professor am Institut für Archäologie an der Hebräischen Universität Jerusalem.
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