Zerbrochene Brücke

Zur aktuellen Situation der deutsch-türkischen Beziehungen

Seit Beginn der 1980er Jahre bin ich mit dem Nahen Osten verbunden – als Student, als Reisender, als Journalist, als Korrespondent. Seit Beginn der 1980er verfolge ich die Entwicklung in diesem wetterwendischen Teil der Welt mit Interesse, Passion, Herzblut und zunehmend mit blutendem Herzen. Wie viele Lichtblicke gibt es heute im Nahen Osten? Libyen, Jemen, Syrien? Länder mit großartiger Vergangenheit, wunderbaren Monumenten, herrlichen Schätzen vergangener Zivilisationen. Länder, die seit Jahren im Chaos versinken, die systematisch zerstört und ihrer In­frastruktur und Zukunft beraubt werden. Lichtblick Ägypten? In den 1980er Jahren war ich dort als Student. Das Land hatte etwas über 60 Millionen Einwohner. Heute sind es mehr als 100 Millionen. Wichtigste Einnahmequellen sind die Gebühren für die Nutzung des Suezkanals, der Tourismus, Auslandsüberweisungen ägyptischer Gastarbeiter sowie milde Gaben aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten. Ägypten ist kein Lichtblick. Ägypten ist eine tickende Zeitbombe. Ägypten ist für dutzende Millionen Menschen ein sozialer und politischer Albtraum.

 

Im Sommer 2011 bin ich als Korrespondent nach Istanbul gekommen. Im Iran war ein gewisser Mahmud Ahmadinedschad Präsident, der provokativ den Holocaust leugnete und den Bau von Nuklearwaffen erforschen ließ. Der sogenannte Arabische Frühling schickte sich nach wenigen hoffnungsfrohen Wochen gerade an, zum Arabischen Winter zu werden. Der Übergang war kurz und schmerzvoll. Aus dem Winter ist längst eine Eiszeit geworden. Hoffnungen auf gesellschaftlichen Pluralismus, wirtschaftliche Prosperität und politische Mitsprache liegen tiefgefroren unter dicken Eisplatten machtpolitischer Kälte und regierungspolitischer Unfähigkeit.

 

Wie anders war damals die Situation in der Türkei. Hier hatte es kurz vor meinem Dienstantritt eine Parlamentswahl gegeben. Diese Wahlen entsprachen internationalem Standard, sie waren frei und fair und sie folgten demokratischen Prinzipien. Die Türkei unter Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan erschien mir damals tatsächlich wie ein Lichtblick im sich immer weiter verdunkelnden Nahen Osten. Die Wirtschaft florierte so gut, dass vom Tiger am Bosporus die Rede war. Minderheitenrechte und politische Reformen wurden mit Blick auf die laufenden EU-Beitrittsverhandlungen noch halbwegs ernst genommen. Die Türkei schien unter Erdoğans Führung tatsächlich den Beweis dafür erbringen zu können, dass Islam und Demokratie nicht nur theoretisch, sondern auch in der Alltags- und Regierungspolitik miteinander kompatibel sind. Mehr denn je bot sich die Türkei damals als politische Brücke zwischen Morgen- und Abendland an.

 

Die von der AKP unter Erdoğan errichtete Brücke ist jedoch inzwischen zerbrochen. Sie ist unter dem Druck machtpolitischer Eigennützigkeit zusammengestürzt. Die Türkei wird aufgrund ihrer geografischen Lage und der großartigen Geschichte, die sich auf dem Boden der heutigen Türkei zugetragen hat, immer eine Brückenfunktion zwischen Orient und Okzident innehaben. Aber unter Führung Präsident Erdoğans ist eine konstruktive politische Brückenfunktion nur noch schwer vorstellbar. Der 63-Jährige hat in den vergangenen Jahren zu viele Brückenpfeiler eingerissen oder von seinen Prätorianern zerstören lassen.

 

Zu den Abbrucharbeiten beigetragen hat auch der politische Wunschpartner Ankaras: die Europäische Union. Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy haben früh schon eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei ausgeschlossen und damit dem anfänglichen Reformeifer der AKP-Regierung Wind aus den Segeln genommen. 2005 haben die EU-Beitrittsverhandlungen begonnen. „Wir werden unseren demokratischen Kampf bis zum Ende fortsetzen. Wir werden uns nicht provozieren oder unter Druck setzen lassen“, stellte Regierungschef Erdoğan damals mit Blick auf das mächtige Militär und innenpolitische Gegner des Beitrittswunsches fest. Das Beitrittsgesuch zur EU sei ohne jeden Zweifel das wichtigste Modernisierungsprojekt der Türkei seit Gründung der Republik, so Erdoğan im Jahr 2005. „Das Gesuch soll Ansporn für unsere Demokratie sein.“ Seit 2004 kursierte in der CDU die Vorstellung von einer privilegierten Partnerschaft mit der Türkei anstelle der von Ankara angestrebten Vollmitgliedschaft. Ende 2005 wurde die CDU-Vorsitzende Merkel Bundeskanzlerin.

Sie hat sich entschlossen den türkischen Beitrittswünschen in den Weg gestellt. Doch es wäre absolut verfehlt, Kanzlerin Merkel die Hauptschuld an Ankaras sinkendem Interesse an der EU und einer seit gut zehn Jahren stärker werdenden Nahost-Drift der türkischen Führung zu geben. Viele Faktoren haben dazu beigetragen, dass Ankaras starker Mann, Erdoğan, heute einen unbändigen Groll auf Brüssel hegt und die EU als „kranker Mann Europas“ beschimpft. Erdoğan hat die Braut Europa umworben. Doch die Angebetete, so empfinden es viele seiner Anhänger, hat dem werbenden Galan anstatt eines Blumentopfs nur einen Nachttopf angeboten. In den Augen von Milliarden Menschen sei Europa nicht mehr das Zentrum von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit, sondern von Druck, Gewalt und Nazismus, polterte Erdoğan kurz vor dem Verfassungsreferendum vom 16. April. „Wir haben es mit einem Kontinent zu tun, der in jeder Hinsicht immer weiter verfault. Und weil ihnen das bewusst ist, versuchen sie, es zu vertuschen, indem sie Fremdenhass, Türken- und Islamfeindlichkeit schüren.“

 

Zu keiner Zeit hat Erdoğan die verbale Abrissbirne heftiger geschwungen als vor dem Verfassungsreferendum im April. „Sie fühlen sich unbehaglich, wenn ich sie Faschisten und Überbleibsel der Nazis nenne. Ihr könnt euch noch so unbehaglich fühlen, ich werde bei meiner Rhetorik bleiben, solange ihr euer Verhalten beibehaltet.“

 

Die EU, so tönte er unlängst, wolle die muslimische Türkei nicht in ihren Reihen haben, weil es ein Christenclub sei. „Ich sage es ganz offen: Das ist eine Allianz der Kreuzritter.“ Vor allem die Terrorgruppen al-Qaida und Daesh, die IS-Terrormiliz, verwenden den Begriff Kreuzritter, um den Westen zu diffamieren. Dass der demokratisch gewählte Staats- und Parteichef Erdoğan sich dieser Vokabel befleißigt, lässt viele Deutungen zu.

 

Wie hält es der Präsident der Republik Türkei mit Demokratie? Ende der 1990er Jahre erregte er als Bürgermeister Istanbuls Aufsehen mit der Bemerkung: „Wie müssen wir uns Demokratie vorstellen? Soll diese Demokratie Zweck sein, oder Mittel? Darüber muss diskutiert werden. Unserer Ansicht nach kann Demokratie niemals ein Zweck sein. Demokratie ist aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet ein Mittel.“

 

Demokratie als Mittel zur Erlangung von Macht. Und wer die Macht mittels Demokratie erreicht hat, der formt sich die Demokratie nach seinen Wünschen. Genau das tut Recep Tayyip Erdoğan. Genau deshalb hat er mit Hängen und Würgen trotz eindeutiger parlamentarischer Mehrheit der Befürworter das Verfassungsreferendum am 16. April mit etwas über 51 Prozent zu seinen Gunsten entscheiden können. Die Gegner seiner uneingeschränkten Machtgelüste waren in vielerlei Hinsicht im Nachteil: Die Befürworter haben sich staatlicher Mittel bedient; sie genossen eine vielfach höhere Berücksichtigung in TV-Kanälen und Zeitungen; regierungskritische Medien wurden zu Dutzenden dicht gemacht; hunderte Oppositionspolitiker wurden unter dem Vorwurf, mit Terroristen zu kooperieren, eingeknastet; im Südosten sorgten sogenannte Dorfschützer mit der Waffe dafür, dass bei der Abstimmung aus HDP-Hochburgen Verfechter der Verfassungsänderung wurden. Kein namhafter EU-Politiker hat Präsident Erdoğan gratuliert. Glückwünsche kamen unter anderem von Wladimir Putin, Donald Trump, aus Katar, Turkmenistan, dem Iran und Aserbaidschan.

 

Es sind nicht zuvörderst die verbalen Entgleisungen Erdoğans, die der Brückenfunktion der Türkei ein vorläufiges Ende gesetzt haben. Es ist die kompromisslose und konsensfreie Machtpolitik, es sind die Entlassungen und Suspendierungen von knapp 150.000 Staatsbediensteten, die Festnahmen und Verhaftungen von bis zu 50.000 Menschen, die „Säuberungen“ im Bildungs- und Justizwesen, die Enteignungen in der Privatwirtschaft, die massive Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit, die Kriminalisierung jeglichen politischen Widerstands. Das türkische Volk ist durch Erdoğans Politik tief gespalten, die Beziehungen zur EU sind zerrüttet, das Verhältnis zu Deutschland ist auf dem Tiefpunkt. Erdoğans Strategie lautet: polarisieren, eskalieren, Stimmung machen. Die Mittel heiligen den Zweck. Der Zweck ist die Macht. Deshalb der wiederaufgeflammte Krieg gegen die PKK, der sich gegen Terroristen, aber mehr noch gegen Politiker der prokurdischen Partei HDP richtet. Recht so, sagen Erdoğans Anhänger, sie sind alle Verräter und Terroristen. Zum Wohl des eigenen Machterhalts, zum Schutz vor möglicher strafrechtlicher Verfolgung aufgrund massiver Korruptionsvorwürfe von Ende 2013 wirft Erdoğan demokratische Grundprinzipien über Bord. Wer kritisiert, droht strafrechtlich verfolgt, verfemt oder eingekerkert zu werden.

 

Die Republik Türkei rückt unter Erdoğan Stück für Stück von Europa ab. Sie nähert sich Stück für Stück der im Nahen Osten gepflegten Machtausübung autokratischer Alleinherrscher. Er pfeife auf die Kriterien von Kopenhagen, die die Grundwerte der Europäischen Union bilden, brüstete sich der 63-Jährige kürzlich. Für ihn gelten die Kriterien von Ankara. Erdoğan setzt eigene Regeln. Sein Regierungsmodell orientiert sich weniger am Präsidialsystem von Paris oder Washington der Vor-Trump-Zeit. Dort gibt es eine funktionierende Gewaltenteilung.

 

Im Frühjahr 2013 bereiste Erdoğan einige Länder Nordafrikas, um dort für das „türkische Modell“ zu werben. Als gläubiger Muslim sei er Regierungschef eines laizistischen Landes, lockte er. Islam und Demokratie stünden sehr wohl miteinander im Einklang, wie das Beispiel Türkei zeige. Noch während seiner Reise brachen im Zentrum Istanbuls zivilgesellschaftliche Proteste um den Gezi-Park aus, die auf Geheiß Erdoğans kompromisslos niedergeknüppelt wurden. Demonstranten wurden von ihm als Lumpen und Terroristen beschimpft. Es gab Tote und hunderte Verletzte. Die Kriminalisierung der Zivilgesellschaft damals wird heute von vielen als das Ereignis genannt, bei dem Erdoğan zum ersten Mal völlig unverblümt sein rücksichtsloses Machtstreben durchpeitschte – mithilfe von Wasserwerfern, Pfefferspray, Tränengas und Gummiknüppeln. Viele weitere sollten folgen. Kein einziges arabisches Land hat sich 2013 von Erdoğans Werbetour beeindrucken lassen, kein Staat ist dem vermeintlichen „türkischen Modell“ gefolgt. Erdoğan aber folgt mit Fleiß den negativen Vorbildern autoritärer arabischer Staaten und trägt damit weiter zum Ende der möglichen Brückenfunktion seines Landes zwischen Europa und dem Nahen Osten bei.

Reinhard Baumgarten
Reinhard Baumgarten ist Redakteur bei SWR Ausland und Europa. Er war bis 2018 Hörfunkkorrespondent der ARD für die Türkei, Griechenland und den Iran.
Vorheriger ArtikelAn gute Zeiten anknüpfen
Nächster ArtikelKnapp über dem Gefrierpunkt