die britische regierung und die politischen entscheidungsträger*innen, die den brexit befürworten, haben es bisher versäumt, der britischen bevölkerung zu vermitteln, wie großbritannien nach dem brexit aussehen wird. es herrscht in der öffentlichkeit viel Verwirrung darüber, was im märz 2019 passieren wird und was nicht, wie sich unser land dann anfühlen und welchen platz großbritannien einnehmen wird – nicht nur bezogen auf europa, sondern auf die gesamte übrige welt. wie nicht anders zu erwarten war, dreht sich momentan alles um handelsabkommen und wirtschaftliche fragen, aber zusammenhalt und glücksempfinden einer gesellschaft beruhen nicht auf wirtschaftlichen aspekten, sondern auf einer von allen geteilten bindung an eine gemeinsame geschichte. Momentan haben wir jedoch keine Ahnung, was das für eine geschichte ist, und das bringt uns in eine äußerst gefährliche lage. wie wir wissen, sind unsere aller größten bedrohungen der klimawandel und die bewusste schwächung rechenschaftspflichtiger demokratischer strukturen durch privatrechtliche unternehmen und reiche privatleute. wir wissen auch, dass keines dieser beiden probleme dadurch gelöst wird, dass großbritannien die europäische union verlässt. daher klafft eine enorme lücke, wo eigentlich unser empfinden einer kollektiven identität sein sollte – und das ist genau die lücke, wo kunst und kultur ansetzen und mithelfen können, sie auszufüllen.
eine rolle des musikers ist es, geschichten zu erzählen. also beschloss ich, mich an dem nationalen Diskurs darüber zu beteiligen, was es bedeutet, britisch zu sein und diese geschichte mitzugestalten, anstatt mich zurückzulehnen und politiker*innen das feld zu überlassen. sollte also beispielsweise der brexit kommen, möchte ich die dinge bewahren, die mich so sehr schätzen lassen, zu europa zu gehören: freundschaft, kultur, gemeinsame historische Entwicklungen, frieden und gemeinsames arbeiten – und verhindern, dass uns eine gruppe meist reicher „weißer“ männer, von denen viele ihren wohnsitz gar nicht im uk haben, mit der uneingeschränkten priorisierung von geld, männlichkeit und weißer Hautfarbe ihr geschmackloses wertesystem aufzwingt.
in der praxis bedeutete das, meine big band umzugestalten und herauszufinden, wie ich mit möglichst vielen musiker*innen aus ganz europa zusammenarbeiten könnte. nachdem also theresa may artikel 50 ausgelöst hatte, starteten wir dieses projekt, die brexit big band, und gingen damit auf tournee. wir werden nun durch ganz europa reisen und mit allen leuten, die mitmachen wollen, songs über den verlauf des brexit aufnehmen. nach unserer ankunft in einer stadt verbringen wir dort einen tag mit proben und gesprächen mit dort lebenden sänger*inne*n und musiker*inne*n, dann machen wir einen tag lang aufnahmen, und am dritten tag treten wir auf. wir hoffen, dass wir nach ablauf von zwei jahren aufnahmen mit über 1.000 musiker*inne*n und mehr als 2.000 sänger*inne*n gemacht haben werden. und für den 29. März 2019 planen wir ein abendliches abschlusskonzert an bord einer fähre, die den Ärmelkanal vom uk nach frankreich überquert.
viele britische musiker*innen verschließen sich vor der realität. es erscheint unmöglich zu sein, dass nach so vielen jahren der reisefreiheit in europa, in denen sie nicht nur aufgetreten sind und ihre musik aufgenommen haben, sondern auch neue kontakte geknüpft und familien gegründet haben, genau diese freiheit enden soll. vielleicht ist diese realitätsverleugnung ja eine art kollektiver halluzination, und das kann wiederum das empfinden dafür anregen, dass die vorstellung, großbritannien könne unabhängig von allen nächsten nachbarn existieren, unausweichlich in sich zusammenfallen muss. wir müssen jedoch ungeheuer aufpassen, nicht so sehr mit singen beschäftigt zu sein, dass wir gar nicht mehr bemerken, dass alle anderen schon weg sind.
in seinem buch „sapiens“ stellt der autor yuval noah harari die these auf, dass wir uns durch unsere fähigkeit, eine geschichte zu erzählen, von vielen anderen tieren unterscheiden. oder anders gesagt, die inspiration für unsere größten errungenschaften ist stets ein akt der fantasie. in einer zeit, in der großbritannien auf eine tiefe identitätskrise zusteuert, ist es notwendiger als jemals zuvor, gemeinsam unsere Fantasie in Gang zu setzen und uns eine gesunde, freundliche, mitfühlende, offene, großzügige und harmonische Zukunft vorzustellen. es sieht immer weniger danach aus, als könne theresa may aus disparaten vorstellungen, menschen, tönen und zielen eine harmonie schaffen – aber künstler*innen, schriftsteller*innen und musiker*innen haben diese besondere fähigkeit über jahrtausende verfeinern können. es ist an der zeit, unsere bleistifte zu spitzen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2018.
Die vollständige Kleinschreibung seiner Texte ist für Matthew Herbert Teil seiner Kunst.