24 Sprachen

Die Politik der Mehrsprachigkeit der Europäischen Union

Jedes Jahr feiern wir am 26.9. den Europäischen Tag der Sprachen. Dieser Aktionstag geht auf eine Ini­tiative des von der EU unabhängigen Europarates aus dem Jahr 2001, dem Europäischen Jahr der Sprachen, zurück. Die Europäische Kommission hat sich dem Projekt von Anfang an angeschlossen. Das ist nur natürlich, wenn man bedenkt, dass die EU die internationale Organisation mit den meisten Amtssprachen weltweit ist. Zwar hat die EU „nur“ 28 Mitgliedstaaten, sie verfügt aber über 24 Amtssprachen – die UNO dagegen mit ihren 193 Mitgliedstaaten hat lediglich sechs Amtssprachen – Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch; der Europarat trotz 47 Mitgliedstaaten sogar nur zwei – Englisch und Französisch.
Wir werden oft gefragt, warum die EU in so vielen verschiedenen Sprachen arbeitet, wenn größere Organisationen mit weniger Sprachen auskommen. Verursacht eine solche Sprachenvielfalt nicht nur unnötigen Verwaltungsaufwand und Kosten?

 

Die Antwort darauf ist ein klares Nein. Die Notwendigkeit der Mehrsprachigkeit in den EU-Organen ergibt sich einerseits aus der besonderen Natur dieses Staatenbundes: Die Organe der Europäischen Union erlassen – im Gegensatz zu den Organen anderer internationaler Organisationen – Rechtsvorschriften, die für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedstaaten unmittelbar gelten, d. h. Gesetze, aus denen jedem einzelnen von uns Rechte und Pflichten erwachsen. Daher muss jeder in der Lage sein, die Vorschriften lesen und verstehen zu können. Man kann von niemandem verlangen, dass er sich an Regeln hält, die er nicht versteht – andererseits sind Rechte wirkungslos, wenn den Menschen nicht mitgeteilt wird, welche Rechte dies sind und wie sie diese durchsetzen können.

 

Außerdem verlangt es unser Demokratieverständnis, dass sich jede Bürgerin und jeder Bürger in seiner oder ihrer eigenen Sprache an die EU-Organe wenden und sich damit in das Projekt EU einbringen kann. Würden wir nur in einer, drei oder sechs Sprachen arbeiten, wie manchmal vorgeschlagen wird, würde ein großer Teil der EU-Bevölkerung effektiv von der Kommunikation mit den EU-Institutionen ausgeschlossen, und zwar oft die wirtschaftlich und sozial schwächeren Bevölkerungsschichten, die im Allgemeinen auch über die geringsten Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Nur mehrsprachig ist die EU für alle ihre Bürgerinnen und Bürger zugänglich und transparent.

 

Andererseits ist für die Europäische Kommission die Mehrsprachigkeit auch eine Angelegenheit europäischer Identität. Dass in der EU alle Sprachen gleichberechtigt sind, ist auch ein Ausdruck der Gleichberechtigung und Achtung der verschiedenen Mitgliedstaaten, ihrer Bürgerinnen und Bürger und ihrer Kultur, unabhängig von Größe oder Wirtschaftsleistung.

 

Schon die Gründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorläuferin der Europäischen Union, waren sich einig, dass die Sprache ein wichtiges Element der nationalen Kultur und Identität ist. Deswegen war es undenkbar, dass einige Staaten zugunsten einer anderen Sprache auf ihre eigene Sprache verzichten sollten. Die erste Verordnung, die erlassen wurde, war dementsprechend auch die Verordnung 1/58 zur Regelung der Sprachenfrage. Darin wird verfügt, dass „Verordnungen und andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung … in den (also allen; Anm. d. V.) Amtssprachen abgefasst“ werden. Diese Sprachen sind in Artikel 1 namentlich aufgeführt. Der betreffende Artikel wurde im Zuge des Beitritts neuer Länder immer wieder geändert und um neue Amtssprachen ergänzt.

 

In diesem Artikel findet sich im Übrigen auch die Antwort auf die vielfach gestellte Frage nach dem Los des Englischen bei einem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU: Solange das Englische in der Verordnung 1/58 verankert ist, bleibt es Amtssprache. Um das Englische zu streichen, müsste die Verordnung geändert werden. Dafür wäre aber Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten erforderlich, was angesichts der Tatsache, dass das Englische weiterhin Amtssprache in zwei Mitgliedstaaten (Irland und Malta) ist, undenkbar erscheint. Es wäre zudem absurd, uns einer Weltsprache zu begeben, die nicht nur bei internationalen Verhandlungen der EU eine wichtige Rolle spielt, sondern auch zwischen Europäerinnen und Europäern gesprochen wird.

 

Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, beschäftigt die Europäische Kommission den größten Übersetzungs- und Dolmetschdienst der Welt. Auch viele andere EU-Organe – beispielsweise das Europäische Parlament, der Rat, die Europäische Zentralbank, der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss, die Europäische Investitionsbank, der Europäische Gerichtshof oder der Europäische Rechnungshof – verfügen über eigene Sprachendienste. Insgesamt arbeiten rund 4.200 Übersetzerinnen und Übersetzer sowie ungefähr 1.000 Dolmetscherinnen und Dolmetscher bei der EU.

Wir werden oft gefragt, ob diese Mehrsprachigkeit nicht „unnötig teuer“ sei. Der (ideelle) Wert von Transparenz, Zugänglichkeit und Kommunikation lässt sich nicht quantifizieren; die Kosten dagegen natürlich schon: Diese belaufen sich für die Übersetzung und Verdolmetschung in allen EU-Einrichtungen zusammen auf ca. eine Milliarde Euro im Jahr. Das mag sich viel anhören, entspricht aber weniger als einem Prozent des EU-Haushalts und 0,009 Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes. Das bedeutet, dass die Mehrsprachigkeit jeden EU-Bürger und jede EU-Bürgerin weniger als zwei Euro pro Jahr kostet.

 

Die EU lebt die Mehrsprachigkeit aber nicht nur in ihren Organen, sie möchte diese auch in der EU-Bevölkerung fördern. Erklärtes Ziel ist es, dass alle EU-Bürgerinnen und -Bürger zusätzlich zu ihrer Muttersprache zwei Fremdsprachen sprechen. Dieses Postulat wurde von den Europäischen Staats- und Regierungschefs 2008 in ihrer „Europäischen Strategie für Mehrsprachigkeit“ festgelegt und erst im November 2017 auf dem Sozialgipfel von Göteborg erneut bestätigt.

 

Hintergrund ist dabei zunächst die ganz praktische Überlegung, dass die EU-Bürgerinnen und -Bürger einen der größten Vorteile des gemeinsamen Binnenmarktes – die Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. die Niederlassungsfreiheit – nur dann wirklich voll ausnutzen können, wenn sie über entsprechende Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Ein Studium, ein Praktikum oder eine Berufstätigkeit im Ausland ist meist nur dann möglich, wenn man die Landessprache zumindest teilweise beherrscht, auch die Integration im neuen Wohnland wird dadurch erleichtert.

 

Die Mobilität der Arbeitnehmer hat sowohl individuelle als auch volkswirtschaftliche Vorteile: Der Einzelne kann von mehr Angeboten und Chancen profitieren, als wenn er auf den heimischen – mehr oder weniger großen – Arbeitsmarkt beschränkt wäre; auf volkswirtschaftlicher Ebene ermöglicht sie eine bessere Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und trägt damit zur allgemeinen Wirtschaftsleistung bei.

 

Aber auch auf dem nationalen Arbeitsmarkt sind Fremdsprachenkenntnisse in Zeiten zunehmender internationaler Vernetzung ein großes Plus: Studien legen nahe, dass gute Kenntnisse einer Fremdsprache – natürlich insbesondere des Englischen, aber nicht nur – erhebliche Gehaltsvorteile mit sich bringen.

 

Das Erlernen von Fremdsprachen darf aber nicht rein utilitär gesehen werden; jede Fremdsprache eröffnet eine neue Kultur, eine neue Literatur, eine neue Geschichte, neue Freundschaften, neue Erkenntnisse – kurz, sie erweitert den Horizont. Man lernt andere Menschen besser verstehen, was Toleranz und Empathie fördert; Eigenschaften, die für ein fruchtbares Miteinander im heutigen Europa unerlässlich sind.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Richard Kühnel
Richard Kühnel ist Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland.
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