Jeder Einzelne zählt

Das Entwicklungswerk der evangelischen Kirchen "Brot für die Welt".

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Beendigung von kolonialer Bevormundung, Hilfe zur Selbsthilfe, Befähigung zu einer selbstbestimmten Entwicklung in Würde – das waren wichtige Motive, an denen sich die Gründungsväter von Brot für die Welt orientierten. Im Kontext der Entkolonialisierungsprozesse in Afrika wurde Brot für die Welt von allen evangelischen Landes- und Freikirchen in Deutschland 1959 ins Leben gerufen. Der Spendenaufruf 1959 war als Zeichen der Versöhnung und Umkehr gedacht. Die Sammelaktion wurde bewusst nicht bei den Missionsgesellschaften angesiedelt, sondern im Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland – das später im Diakonischen Werk der EKD aufging – als Instrument der „ökumenischen Diakonie“.

 

Diakonie bezeichnet die Aufgabe der Kirchen, Menschen in Not jeder Art beizustehen. Wie auch von Brot für die Welt von Anfang an praktiziert, kommt die Unterstützung Menschen ausschließlich nach dem Maß ihrer Not zugute – unabhängig von ihrer nationalen, religiösen oder ethnischen Herkunft und ihres Geschlechtes. Hilfe wird nicht religiös konditioniert. Das ist auch das Verständnis der kirchlichen Partner, mit denen wir – neben zivilgesellschaftlichen Akteuren – kooperieren. Wir werden nicht selbst in anderen Ländern tätig, sondern unterstützen die Zivilgesellschaft dort, ihren eigenen Weg zu gehen. Brot für die Welt hat nichts mit „Missionierung“ im Sinne einer strategischen Mitgliederwerbung oder Instrumentalisierung der Hilfe für Evangelisationszwecke zu tun. Für die Unterstützung der ausländischen Partnerkirchen bei deren missionarischen und Verkündigungsaufgaben wurden die landeskirchlichen Missionswerke mandatiert. Mission und Diakonie sind – auch schon den biblischen Wurzeln nach – zwei unterschiedliche Aufgaben der Kirche.

 

Das Wort Ökumene bezeichnet nicht nur interkonfessionelle Beziehungen, sondern – im Sinne des griechischen Begriffes „oikumene“ – auch den gesamten bewohnten Erdkreis, der – biblisch – als Herrschaftsraum Gottes, wie in Psalm 24,1, und zugleich als Verantwortungsraum des Menschen gilt.

 

Ökumenische Diakonie bedeutet demgemäß die Sorge für das Wohl aller Menschen und der Völkergemeinschaft. Schon für die Urkirche galt, dass die Verantwortung der Christen nicht nur den Nahen gilt. Das wurde aber in Zeiten von Nationalismus und Kolonialismus verdrängt und erst nach dem Ersten Weltkrieg von den Kirchen weltweit wiederentdeckt. So wurde das „Europäische Zentralbüro für zwischenkirchliche Hilfe“ in Genf für die Flüchtlings- und Aufbauhilfe gegründet.

 

Der 1948 gegründete Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf, dem weltweit Hunderte Kirchen angehören, war nach dem Zweiten Weltkrieg ein zentrales multilaterales Instrument der ökumenischen Diakonie. Er unterstützte auch die Kirchen im kriegszerstörten Deutschland dabei, Not zu lindern. Weltweit zu teilen wird von den Kirchen als Selbstverständlichkeit gesehen, da sie davon ausgehen, dass alle Ressourcen letztlich Gottes Gaben und nicht der eigene „Verdienst“ und Besitz einer Nation oder Kirche sind. Das Geber-Nehmer-Verhältnis geschieht also im Rahmen einer Dreiecksbeziehung mit Gott. Das fördert – idealerweise – Demut und ein antihegemoniales Verständnis der zwischenkirchlichen Beziehungen.

 

Brot für die Welt setzte in den ersten Jahrzehnten einen Großteil seiner Hilfe für die – sich parallel von den Missionsgesellschaften des Nordens unabhängig machenden – sogenannten „jungen Kirchen“ des Südens über den ÖRK als multilateralem Hilfsinstrument der Kirchen um. Die Auseinandersetzung der ÖRK-Mitglieder mit den strukturellen Gründen und Möglichkeiten der Überwindung der Armut in den ehemaligen Kolonien führte zur Überzeugung, dass Nothilfe als Methode der ökumenischen Diakonie nicht ausreichte. Stattdessen waren langfristige strukturelle Armutsbekämpfung und die Mitwirkung am Aufbau angemessener gerechter Gesellschafts- und Sozialstrukturen in den sogenannten „jungen Nationen“ angesagt. Ab Anfang der 1960er Jahre waren Emanzipations-, Befreiungs- und antirassistische Bewegungen aktiv in die Diskussionen einbezogen. Der Leitbegriff „Entwicklungsverantwortung“, mit dem diese Aufgabe ökumenischer Diakonie für die Kirchen des Nordens seit Ende der 1950er Jahre umschrieben wurde, hatte deshalb in der Theorie immer einen anti-kolonialen emanzipativen Grundton. Das galt auch für Brot für die Welt. Nicht die Steigerung des Bruttosozialproduktes eines Landes gilt als Anhaltspunkt für „Entwicklung“, sondern die Frage, ob die Bedürfnisse, Potenziale und Rechte aller Bevölkerungsgruppen gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Würde und Rechte jedes Einzelnen zählen. „To leave no one behind“ – das Motto der Agenda 2030 der Vereinten Nationen – gilt für Brot für die Welt seit Beginn. Armutsbekämpfung ist ohne gleichberechtigte Teilhabe von Frauen, ohne Frieden, ohne Nachhaltigkeit, ohne den Stopp des Klimawandels, ohne eine sozial-ökologische Transformation weltweit und in unserem Land nicht möglich. Entsprechend sind Gendergerechtigkeit, gerechter Frieden und Klimagerechtigkeit Facetten unserer heutigen praktischen und politischen Arbeit gemeinsam mit an die 1.500 kirchlichen und nicht-kirchlichen Partnern.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Cornelia Füllkrug-Weitzel
Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Präsidentin von Brot für die Welt.
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