Im Mittelpunkt steht der Mensch

Die Arbeit von Misereor

Hunger, Krankheiten, Klimawandel, der Verlust an Biodiversität und nicht zuletzt die rücksichtslose Ausbeutung von Bodenschätzen bedrohen heute das Leben auf der Erde. Häufig sind die Probleme von Menschen verursacht. Ihren Ursprung haben sie in den weltweit dominierenden ungerechten und zerstörerischen Lebens- und Produktionsweisen. Nutznießer und Opfer leben im geografischen Norden wie im Süden. Ehemals lokale Fragestellungen wie z. B. der Zugang zu Nahrung sind zu globalen Herausforderungen geworden, wenn es um politische, wirtschaftliche und technologische Entscheidungen zu Gentechnik, Agrarindustrie, ökologischer Landwirtschaft, regionaler Produktion oder Fleischkonsum geht.

 

Religionen können mit Bezug auf Gott – oder wie auch immer der letzte Bezugspunkt für eigene Sinn- und Wertkonstruktionen genannt wird – unterschiedliche Rollen im menschlichen Miteinander spielen. Religionsgemeinschaften können in Konflikten zu Gewalt aufrufen oder zu friedlicher Transformation beitragen. Misereor als Werk der katholischen Kirche baut auf den positiven Potenzialen auf. Es will aus christlichem Glauben heraus weltweit das Gemeinwohl durch Gerechtigkeit, Frieden und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen fördern. Unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion setzt sich Misereor für Menschen ein, denen das Recht auf ein Leben in Würde, Freiheit und ausreichender und gesunder Versorgung verwehrt bleibt.

 

Im Juni 2015 hat Papst Franziskus mit dem Schreiben „Laudato si’“ (LS) das Programm einer „integralen Ökologie“ skizziert, theologisch wie naturwissenschaftlich fundiert. Es ist der katholische Blick auf die UN-Agenda 2030 und das Pariser Klimaabkommen – unterstützend, erweiternd. Wer den „Schrei der Erde“ und den „Schrei der Armen“ heute hört, wie es in LS 49 heißt, der sieht, dass soziale und ökologische Fragen nicht mehr zu trennen sind. Christliche Grundlagen sind erstens die Parteilichkeit zugunsten der Armen, besser: der Armgemachten, und zweitens das erneuerte Bewusstsein, nicht Besitzer, sondern Hüterinnen und Hüter der Erde zu sein (LS 67). Alles steht mit allem in einer wechselseitigen Beziehung. Deswegen akzentuiert Misereor, 1958 als Fastenaktion gegründet, heute in der Debatte um Wachstum und Nachhaltigkeit den Aspekt der Suffizienz, wissend, dass es auch um Effizienz und Konsistenz geht. Aber die Effizienzversprechen zur Bewältigung globaler Krisen werden nicht eingehalten. So ist es vernünftig, suffiziente Lebens- und Produktionsstile zu stärken, soll das Leben auf der Erde Zukunft haben.

 

In der Sorge um die Erde und die Lebensbedingungen auf ihr verbinden sich Christinnen und Christen mit allen Menschen. Folglich verändert sich das Verständnis von Entwicklung. Weg von der traditionellen Entwicklungshilfe hin zu internationaler Zusammenarbeit. Die weltweite Präsenz der katholischen Kirche ist hierfür eine Stärke. Misereor schafft Räume, damit Menschen über Kontinente hinweg interagieren, sich artikulieren, Klagen vorbringen und hören können. Es sind Räume, in denen Alternativen entstehen können. Misereor arbeitet mit kirchlichen wie nichtkirchlichen Partnerorganisationen zusammen, säkularen wie solchen mit anderen religiösen Hintergründen. Proselytismus, die Abwerbung von Menschen mit anderen Werten oder aus anderen Religionen war und ist nicht das Ziel Misereors und seiner Partner. Parteilich für die Interessen der Armgemachten und Ausgeschlossenen einzustehen, heute ergänzt um die Bewahrung der Schöpfung – darum geht es. Misereor arbeitet so, eben weil es katholisch ist und nicht, obwohl es katholisch ist.

 

Misereor unterstützt mit Entwicklungsprojekten in Afrika, Asien und Lateinamerika Menschen dabei, ihr Leben aus eigener Kraft positiv zu verändern. Diese Projekte greifen lokale Initiativen auf, bestärken und ermutigen Menschen als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung und Geschichte. Die Arbeit basiert auf der Hilfe zur Selbsthilfe. Verständnis und Konzept von Selbsthilfe und Selbsthilfeförderung haben sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Die Suche nach einer gelingenden Praxis ist eine permanente Herausforderung und es gibt keine immer und überall geltenden Antworten und Rezepte.

 

Für Misereor steht der Mensch im Mittelpunkt. Menschen haben eine unverlierbare Würde und sind darin alle gleich. Diese Würde ist Menschen geschenkt, unabhängig von aller Leistung, einfach qua ihres Menschseins. Entwicklung ist nie nur wirtschaftliche oder technologische Angelegenheit, sondern stets auch individuelle, gemeinschaftliche und strukturelle, politische und kulturelle Aufgabe.

 

In der globalen Wirtschaft und Politik scheinen wir von der notwendigen Augenhöhe in jeglichem menschlichen Miteinander immer noch sehr weit entfernt. Dabei müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass koloniales Erbe in den Ländern des Südens, aber gerade auch in unserer tief verwurzelten Sicht auf diese Länder als „Entwicklungsländer“ fortwirkt – auch in der Entwicklungszusammenarbeit. Umso mehr müssen wir uns die Praxis von Partnerschaft kritisch ansehen, Machstrukturen aufdecken und die Richtung gleichberechtigter Teilhabe verändern. Für Augenhöhe ist permanenter Dialog entscheidend, die Bereitschaft, voneinander zu lernen, keine Modelle überzustülpen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Markus Büker
Markus Büker bearbeitet Theologische Grundfragen in der Stabsstelle bei Misereor.
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