Im Lager der „Bremser und Erbsenzähler“

Das Gebot der Sorgfalt in der Kolonialismusdebatte ist essenziell

Auch die dubiose Behauptung, dass sich 90 bis 95 Prozent des afrikanischen Kulturerbes heute außerhalb des Kontinents befänden, wurde von der Ethnologin Z. S. Strother, die an der Columbia University lehrt, grandios widerlegt. Allein das Nigerianische Nationalmuseum in Lagos verfügt über 50.000 Kunstwerke; das Musée du quai Branly in Paris hat nach Schätzungen nur 20.000 Objekte mehr. Strother sieht den eigentlichen Grund für das Drängen auf Tempo bei der Rückgabefrage deshalb in Emmanuel Macrons politischen Ambitionen in Afrika. Das Bild der Franzosen dort soll sich schnell ändern. Tatsächlich fällt auf, dass es bei allen Aktionen vor allem um Afrika geht. Der nigerianisch-amerikanische Kunsthistoriker Teju Cole hat vor diesem „weißen industriellen Heilsbringer-Komplex“ deutlich gewarnt. Wenn man sich schon in das Leben anderer Menschen einmischen würde, dann sei Sorgfalt doch das Mindeste, was man erwarten kann.

 

Es ist naiv zu glauben, dass sich die Identifikation mit den Objekten von selbst einstellen würde, wenn sie nur wieder in Afrika sind. Aus verschiedensten Gründen tun sich die modernen afrikanischen Gesellschaften schwer mit ihrem aus kolonialer und vorkolonialer Zeit stammenden Erbe. Strother kennt diese Geschichte des Scheiterns, Savoy offenbar nicht. Unser Gesicht Afrikas ist eben ein anderes als das der Afrikaner selbst. Das ist eine Binsenweisheit der postkolonialen Debatte, aber nicht einmal die wird bei uns reflektiert. Es ist überhaupt erstaunlich, warum wir in einer globalen Welt die Dinge unbedingt an ihren Ursprungsort zurückbringen wollen. Da kommt ein Kulturessenzialismus zum Vorschein, der ein halbes Jahrtausend Entdeckungsgeschichte und Welterfahrung schlicht ignoriert.

 

Niemand bestreitet mehr die Gewalt, die den Menschen in den Kolonien angetan wurde. Unter den Folgen leiden sie bis heute. Aber wir helfen ihnen nicht mit einem Ablasshandel, der nur unser eigenes Gewissen beruhigt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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