Die Stimmen der Steine

Tansania heute nach Mission und Aufbruch

Hier ungefähr muss er gestanden haben, Chief Mkwawa – gesessen, gelegen, um sich mit den Geistern seiner Ahnen zu beraten. Weit über 100 Jahre ist das her, hier auf den Gangilonga-Felsen hoch über der Stadt Iringa im südlichen Hochland von Tansania in Ostafrika. Wegen der günstigen Lage in rund 1.500 Meter Höhe war sie in der Kolonie Deutsch-Ostafrika seit den 1890er Jahren Hauptstadt eines Militärbezirks. Die alte „Boma“, das Gerichtsgebäude der deutschen Herrscher, kann heute als kleines Museum unten in der Stadt besichtigt werden. Hier oben an den Gangilonga-Felsen – dem „sprechenden Stein“– so die Legende, soll Chief Mkwawa, Anführer des Hehe-Volkes, auf die Stimmen seiner Ahnen, auf die Weisheit der „sprechenden Steine“ gelauscht haben, wie die Deutschen am besten zu besiegen seien. Unter Mkwawas Führung setzten die Hehe den Kolonialherren einige Jahre lang heftig zu, bis diese dann 1898 schließlich doch gewannen und Chief Mkwawa sich – so sagen es heute die Historiker – von seinem letzten treuen Krieger umbringen ließ, um seinen Verfolgern nicht in die Hände zu fallen. Nicht verhindern konnte er allerdings, dass sein Leichnam den Deutschen in die Hände fiel. Er wurde enthauptet und sein Schädel als Trophäe nach Deutschland gebracht, wo er trotz anderer Zusagen im Versailler Vertrag bis 1954 verblieb. Erst dann wurde er von Deutschland über die britische Protektoratsmacht nach Tanganjika zurückgegeben, noch bevor dieses Land 1961 als Tansania seine Unabhängigkeit erlangte. Seither ist der Schädel in einem kleinen Museum nahe Iringa ausgestellt und gibt, so ein Mitarbeiter des Museums, Tansanierinnen und Tansaniern die Möglichkeit, auf die Menschen stolz zu sein, die den Kolonisatoren widerstanden haben.

 

Heute stehe ich hier auf den Gangilonga-Felsen, denke an Chief Mkwawa und seinen Widerstand gegen deutsche Kolonisatoren. Und ich denke auch an die deutschen Missionare, die in der Folge der Kolonisatoren in den Süden Deutsch-Ostafrikas kamen. Hätte es sie nicht gegeben, wäre ich heute nicht hier. Seit 1891 war die Berliner Missionsgesellschaft im Süden Deutsch-Ostafrikas tätig, entsandte Missionare, die Missionsstationen gründeten und das Evangelium von Jesus Christus verkündigten. Dazu gehörte es nach deren Auffassung auch, die indigene Bevölkerung „zu erziehen“ und sie so zu besseren Menschen zu machen. Dass die Missionare durch regelmäßige Investition in die Bildung, wie die Gründung von Schulen, und das Gesundheitswesen, wie den Aufbau von Krankenstationen, auch einen Beitrag dazu leisten wollten, die Kolonien profitabel zu entwickeln, zeigen Flugschriften wie z. B. die des späteren Inspektors der Berliner Missionsgesellschaft, Alexander Merensky, mit dem sprechenden Titel „Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagenarbeit?“ von 1886. Als die ersten Missionare der Berliner Mission in die Gegend von Iringa kamen, war Chief Mkwawa allerdings schon tot; die deutsche Herrschaft im Südwesten des Landes war gefestigt. Seit 1899 wurden die ersten Missionsstationen im Gebiet der Hehe gegründet. Sie entwickelten sich gut und werden noch heute von den Geschwistern in unserer tansanischen Partnerkirche als Ursprungsorte ihrer Glaubensgeschichte hoch geschätzt. „Es sind Orte, die uns erinnern, dass ihr uns das Evangelium von Jesus Christus – und damit auch Bildung und Gesundheitswesen nach Afrika gebracht habt!“, sagt mir der befreundete Pfarrer aus Iringa, der jetzt neben mir auf dem Gangilonga steht.
Da stehen wir also – ich, der Superintendent eines evangelischen Berliner Kirchenkreises, gemeinsam mit meinem tansanischen Kollegen auf diesen „sprechenden Steinen“. Wir fragen uns, was sie uns heute wohl zu sagen haben – diese Steine, die „Stimmen“ unserer Vorfahren. Von unserer gemeinsamen Geschichte erzählen sie uns – einer schwierigen Geschichte von Unterdrückung und Widerstand und gleichzeitig von einer inspirierenden Geschichte von Aufbruch und gemeinsamer Entwicklung. Der tansanische Kollege wird nicht müde zu betonen, wie gut und wichtig die Mission in seinem Land gewirkt hat. Ich frage dagegen nach zerstörter Kultur und ausgebeuteten Menschen und lerne: Wir werden den Widerspruch aushalten müssen!

 

Und wir versuchen das seit rund 40 Jahren in Partnerschaft unserer Kirchen, unserer Kirchenkreise. Nach der Unabhängigkeit des Staates Tansania wurden Zug um Zug auch die Missionskirchen unabhängig. Aus den Missionskirchen deutscher Missionsgesellschaften entstand 1963 die Evangelisch-Lutherische Kirche von Tansania (ELCT) – mit inzwischen über 6,3 Millionen Mitgliedern (Stand 2013) heute die zweitgrößte lutherische Kirche der Welt. Mit der Unabhängigkeit veränderten sich auch die Beziehungen: eine Partnerschaft entwickelte sich, die heute zwischen dem Evangelischen Kirchenkreis Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin und dem Kirchenkreis Iringa-West in Iringa fortbesteht und mich hierher geführt hat. In der grundlegenden Überzeugung, dass wir in der Kirche Jesu Christi weltweit verbunden sind, versuchen wir diese Partnerschaft durch gegenseitige Besuche, Gebete und gemeinsame Projekte zu gestalten. Inzwischen ist sie durch Kontakte der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Amerika (ELCA) nach Iringa zu einer dreiseitigen Partnerschaft gewachsen. Neben dem regelmäßigen Austausch, gemeinsamen Konferenzen von Pfarrpersonen und Laien aus diesen drei Regionen, engagieren wir uns seit 1994 insbesondere in einem gemeinsamen Projekt, dem Huruma-Centre, einem Lebensort für Straßenkinder aus Iringa, die oft aufgrund der Aids-Pandemie nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien versorgt werden können. Rund 40 Kinder leben hier derzeit ähnlich wie in einem SOS-Kinderdorf. Vorbild dafür ist das traditionelle Zusammenleben einer Großfamilie im Dorf. Die drei Partner aus Iringa, USA und Berlin tragen die Finanzierung gemeinsam. Die Leiterin des Huruma-Centre ist überzeugt, dass das ein sehr gutes Beispiel für die Früchte ist, die die Missionsarbeit unserer Vorfahren gebracht hat – ein kleiner, aber erheblich wichtiger Beitrag für die Entwicklung dieses Landes, das einmal eine deutsche Kolonie war.

 

Es tut gut, auf dem Gangilonga zu stehen und beim Blick über die moderne Stadt Iringa auf die Stimmen der Steine zu hören.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Carsten Bolz
Carsten Bolz ist evangelischer Pfarrer und arbeitet als Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin.
Vorheriger ArtikelUnvergessliche Zeugnisse besonderer Kulturen
Nächster Artikel„Das Afrika, das wir wollen“