Das Ziegenbalghaus

Die interkulturelle Arbeit der Franckeschen Stiftungen in Südindien.

Im Zuge des Wiederaufbaus der Franckeschen Stiftungen in Halle nach der Wende wurden auch die internationalen Verbindungen wieder aufgenommen, die seit dem 18. Jahrhundert bestanden hatten. Mitte der 1990er Jahre besuchten erste Delegationen der südindischen Tamil Evangelical Lutheran Church (TELC), die aus der ursprünglichen Dänisch-Halleschen Mission erwachsen war, die Stiftungen und machten deutlich, dass sie hier ihre geistigen und geistlichen Wurzeln sahen. Gleichzeitig bekundeten sie großes Interesse vor allem an den schriftlichen Überlieferungen aus der Missionszeit. Es stellte sich heraus, dass im Archiv der Franckeschen Stiftungen heute mehr Informationen über Teile der südindischen Geschichte des 18. Jahrhunderts zu finden sind als in indischen Quellensammlungen. Das berechtigte Interesse der indischen Partner aus Kirche und Wissenschaft an einem adäquaten Zugang zu den einschlägigen Überlieferungen führte zu einer umfassenden Erschließung und Mikroverfilmung von mehr als 30.000 Handschriften in der Indienabteilung des Stiftungsarchivs. Zum 300. Gründungsjubiläum der Dänisch-Halleschen Mission im Jahr 2006 übergaben die Franckeschen Stiftungen Mikrofilmkopien ihres Indienarchivs an eine indische Partnerhochschule, um die Quellen der Forschung vor Ort zugänglich zu machen.

 

Während des offiziellen Deutschland-Indien-Jahres 2012 konnten die Stiftungen ihre wissenschaftlichen und kulturellen Kooperationen mit Südindien weiter ausbauen. In Tharangambadi, einst ein dänischer Handelsstützpunkt und Ursprungsort der Dänisch-Halleschen Mission in Südindien, entstand der Plan, in dem historischen Wohnhaus des ersten halleschen Missionars, Bartholomäus Ziegenbalg, ein Museum für den interkulturellen Dialog einzurichten. Dem Evangelisch-Lutherischen Missionswerk in Niedersachsen (ELM) gelang die Einwerbung einer Entwicklungshelferstelle erstmals für kulturelle Zwecke, um das Projekt mit einer Fachkraft vor Ort aufzubauen und zu leiten. Für die Aufgabe konnte die Kulturwissenschaftlerin Jasmin Eppert gewonnen werden, die in den Franckeschen Stiftungen auf ihre Arbeit vorbereitet wurde und seit 2016 das Projekt vor Ort leitet. In enger Zusammenarbeit mit der TELC und der indischen Denkmalschutzorganisation INTACH sowie mit zwei evangelischen Missionswerken in Deutschland und mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes gelang es 2016, das historische Gebäude, das zuvor dem Verfall preisgegeben war, denkmalgerecht zu sanieren. Anschließend wurde dort eine erste Dauerausstellung eingerichtet, welche von englischsprachigen Informationstafeln begleitet wurde. Das Museum für den interkulturellen Dialog nahm am 15. Juli 2017 seinen Betrieb auf.

 

Das besondere Augenmerk des Projektes liegt auf dem interkulturellen Ansatz, der diese weltweit erste lutherische Missionsunternehmung auszeichnet und der weit über die Kernbelange einer christlichen Mission hinausreicht. Die Dänisch-Hallesche Mission genießt bis heute hohes Ansehen in der südindischen Öffentlichkeit. Die Missionare machten sich um die Weiterentwicklung der südindischen Schriftsprachen verdient. Die Einführung und nachhaltige Verbreitung der Druckerkunst über ganz Indien erfolgte durch die hallesche Missionsdruckerei von Tharangambadi aus. Hochrangige – wohlgemerkt nicht christliche – Vertreter der indischen Druckervereinigung betrachten die Franckeschen Stiftungen als Ursprungsort ihres Berufsstandes und das Ziegenbalghaus erfährt durch Leihgaben, Sachleistungen und Publicity vonseiten der Druckerlobby erhebliche Unterstützung. Es gehört mit zu den wichtigen Erfolgen des Museums, dass es die Brücke von der christlichen Missionsgeschichte bis tief in die südindische Kulturgeschichte baut, für christliche und nicht christliche Besucher gleichermaßen zugänglich, interessant und ansprechend ist, und so auch von nicht christlicher Seite in Indien Unterstützung erfährt. Das bietet die Voraussetzung für einen gelingenden interkulturellen und interreligiösen Dialog.

Thomas Müller-Bahlke
Thomas Müller-Bahlke ist Direktor der Franckeschen Stiftungen.
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