Ideologischer Spielball

Das Humboldt Forum zwischen kultureller Versöhnung und kolonialen Verstrickungen

Je näher die Eröffnung des Berliner Humboldt Forums rückt, desto heftiger flammt der Streit wieder auf. Der Spiegel hat schon das Ende vor Augen. So wie geplant, kann man dort lesen, wird es wohl nichts mehr werden mit diesem Projekt. Aber geht es überhaupt noch um das verdammte Schloss, das Fake-Schloss, wie es im Spiegel heißt, dass seine Gegner nicht verhindern konnten, weshalb sie es jetzt seiner Inhalte berauben. Als versöhnlicher Ort sich begegnender Kulturen ist es in weite Ferne gerückt. Oder geht es doch mehr um Raubkunst, die dort nicht ausgestellt werden darf; um deutsche Verstrickungen und den Kolonialismus schlechthin. Das größte Kulturprojekt unserer Zeit ist zum ideologischen Spielball geworden.

 

Immerhin hat sich der Diskurs darüber aus den postkolonialen Murmelgruppen gelöst und ist auf die große mediale Bühne gewechselt. Dort liefern sich die Protagonisten im Raubkunststreit inzwischen einen rasanten Überbietungswettbewerb, wer noch entschiedener für die Rückgabe plädiert und noch heftiger gegen den deutschen Kolonialismus austeilt. Während die Fachleute schweigen.

 

Lange Zeit bestimmte die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy die Debatte. Mit ihren Tschernobyl-Vorwürfen gegen den Beirat des Humboldt Forums hat sie den Sound programmiert. Doch inzwischen ist mit einer gewissen Verspätung auch der Historiker Götz Aly auf den Plan getreten, der bei der Frage nach Schuld und Verantwortung nicht mehr viel Federlesens macht. Benin? Was war schon Benin? Die wahren kolonialen Verbrechen fanden in der Südsee statt. Man wird ihm über weite Strecken beipflichten müssen. Die deutschen Kolonialtruppen und Überseehändler haben im früheren Bismarck-Archipel ganze Arbeit geleistet, haben die kleinen Inselvölker oftmals vernichtet und eine alte Seefahrerkultur „rattenkahl gefressen“, wie es damals schon hieß.

 

Götz Aly, der ein Meister der dramaturgischen Fokussierung ist, stellt in den Mittelpunkt seiner scharfen Abrechnung das Prunkstück der ethnografischen Sammlungen in Dahlem, das berühmte Luf-Boot, das unter nicht ganz geklärten Umständen in den Besitz der deutschen Überseehandelsgesellschaft Eduard und Franz Hernsheim kam und jahrzehntelang der Blickfang des Berliner Völkerkundemuseums war. Das schöne Fremde und die Wehmut seiner Betrachter. Ein besserer Einstieg lässt sich kaum finden.

 

Alys Buch hat deshalb wie eine Bombe eingeschlagen, weil sich die verstörenden Ereignisse so ergreifend erzählen lassen. Die brachiale, mit modernen Maschinenwaffen hochgerüstete deutsche Überseeexpedition überfällt eine kleine, zerbrechliche Inselwelt, die man sich nicht erst seit Margaret Mead als Heimat ewig singender und liebender „Naturvölker“ vorgestellt hat. „Die Deutschen zerstörten ein Paradies“, heißt es beim Spiegel, aber sie „behaupten bis heute das Gegenteil“.

 

Es ist müßig, darüber streiten zu wollen, ob die Rolle, die das Handelshaus Hernsheim damals gespielt hat, tatsächlich unseren heutigen Vorstellungen von den gewinnsüchtigen Heuschrecken entspricht; oder warum nicht noch andere Stimmen zu Wort kommen wie die des liberalen Gouverneurs von Deutsch-Samoa, Wilhelm Solf, des späteren Chefs des Reichskolonialamtes, ein dezidierter Verfechter einer anderen Kolonialpolitik. Und man wundert sich schon, warum sich keiner der ausgewiesenen Historiker wie Horst Gründer oder Gisela Graichen zu Wort meldet. Den blinden Fleck in der deutschen Geschichte hat es jedenfalls so nicht gegeben.

 

Man wird dabei den Eindruck nicht los, dass es wieder um das Humboldt Forum geht. Dem versetzt Aly einen heftigen Stoß. Denn wie soll man das Boot dort wieder loswerden, wo es doch längst schon vermauert ist. Es müsste wieder herausgebrochen werden, was eine fatale Symbolik besitzt. Denn was falsch aufgebaut wurde, kann auch wieder abgerissen werden. Das „Fake- Schloss“, frohlockt man beim Spiegel, ist wohl nicht mehr zu retten.

 

Bénédicte Savoy hat sich in diesem Streit auffällig zurückgehalten. Sie schlägt lieber ein neues Kapitel auf und hat sich mit der Vorgeschichte der aktuellen Raubkunstdebatte beschäftigt – ein unrühmliches Beispiel kollektiver Verweigerungshaltung. Über Jahrzehnte hat ein raffiniertes Netzwerk von Kulturpolitikern und Museumsdirektoren alle Rückgabeersuchen behindert. Sie fühlten sich damals unangefochten im Recht.

 

Wenn man über dieses erste, beschämende Kapitel der Restitutionsgeschichte liest, versteht man auch besser, warum es bei den Beninbronzen kein Halten mehr gab. Nofretete, hieß es schon damals, wolle nach Hause; die Schätze aus dem Benin werden den Heimweg wohl antreten können. Das ist Savoys persönlicher Triumph. Aber sie sieht die Raubkunstfrage längst in einem größeren Zusammenhang und hat die „territoriale Verlagerung von Kulturgütern in Kriegs- und Friedenszeiten“ zum Kernthema ihres Forschungsclusters „Translocations“ gemacht. Ein erster Bildatlas und eine Anthologie zu „Kunstraub und Kulturerbe“ ist dieser Tage erschienen. Von Benin liest man nur noch am Rande; das Humboldt Forum kommt fast gar nicht mehr vor.

 

Zwar ist immer noch von „Gefangenen in versagenden Systemen“ die Rede oder der „zivilisatorischen Behauptung der europäischen Moderne“; aber wie sich diese Moderne in die „Verlagerungsgeschichten“ vieler Objekte unlöschbar eingeschrieben hat, dafür öffnet sich jetzt der Blick. Translokation und Transformation lassen sich nicht voneinander trennen. So beklagte schon der gabunische Schriftsteller Paulin Joachim jene „herrliche Nutzlosigkeit“, in der die Objekte in den ethnografischen Sammlungen übereinandergestapelt lägen, „im gekühlten Universum von Galerien ohne Sonne und Farben“. Und der berühmte Film über Raubkunst, „You Hide me“, entstand 1970 im Depot des British Museum. Ihre heutige Bedeutung haben diese Werke erst auf dem Kunstmarkt bekommen, „entkoppelt“, wie die Ethnologin Britta Hauser-Schäublin sagt, von ihrer „Herkunftsgesellschaft“ und der eigenen Geschichte beraubt. Ihre Translokation lässt sich als koloniale Machtausübung erklären; ihre moderne Transformation aber nicht.

 

Was bedeutet das für das Humboldt Forum? Es bleibt mit seiner postkolonialen Gebärde weit hinter solchen Fragen zurück. Stattdessen wird die Sackgasse immer deutlicher, in der man dort steckt. Das Humboldt Forum ist zu einem Exerzierplatz der Selbstentfremdung geworden, die sich der anderen Sichtweisen nur als Krücke bedient. „Othering“ nennt man das in der Kulturwissenschaft für gewöhnlich. In Berlins Mitte sucht man Distanz zu sich selbst.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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