Dornröschenschlaf beendet

Die aktuelle Kolonialismus-Aufarbeitung in Deutschland

D ie koloniale Fremdherrschaft über Teile Afrikas, Ozeaniens und Chinas ist eines der am meist verdrängten Kapitel deutscher Geschichte. In der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik wurden die deutsche Kolonialherrschaft, die damit verbundenen Verbrechen und der antikoloniale Widerstand bisher kaum berücksichtigt. Hartnäckig hält sich die Meinung, Deutschland sei eine unbedeutende und harmlose oder sogar positiv wirkende Kolonialmacht gewesen. So behauptete jüngst der Gründungsintendant des Humboldt Forums, Horst Bredekamp, Deutschland sei – trotz letztlich erfolgloser Bestrebungen – keine Kolonialmacht gewesen. Und der Afrika-Beauftragte der Bundeskanzlerin, Günter Nooke, argumentierte in der Boulevardzeitung B. Z. gar, der Kolonialismus habe dazu beigetragen, Afrika „aus archaischen Strukturen zu lösen“.

 

Beide Äußerungen stehen exemplarisch für die mangelnde Auseinandersetzung mit unserem kolonialen Erbe und das Fortbestehen kolonialer Denkstrukturen. Der derzeit viel diskutierte Begriff „Postkolonialismus“ weist auf den wesentlichen Sachverhalt hin, dass der Kolonialismus in unseren Köpfen weiterlebt, und das oft unbewusst. Bis heute prägen kolonialistische Bilder unser Denken: das Bild vom wilden Afrika oder exotistische Vorstellungen des „Fremden“. Sie tragen dazu bei, fortbestehende Machtverhältnisse und tradierte Vorstellungen von Ungleichwertigkeit zu verfestigen. Doch dieses Bild beginnt sich – wenn auch langsam – zu verändern.

 

Nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf diskutieren Politik und Öffentlichkeit heute über den Umgang mit Kulturgut aus kolonialen Kontexten und, untrennbar damit verbunden, über den Umgang mit unserem kolonialen Erbe. Einen wichtigen Anteil daran haben die vielen lokalen und überregionalen migrantisch-diasporischen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, wie z. B. vom bundesweiten Bündnis Decolonize, die den Kolonialismus und dessen Kontinuitäten seit vielen Jahren adressieren. In Solidarität mit hier lebenden Nachfahren Kolonisierter treiben sie die Debatte um die Provenienz und Restitution von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, die Etablierung von Erinnerungsorten, den Charakter des Humboldt Forums und die kritische Diskussion über kolonialpropagandistische Straßennamen und Denkmäler maßgeblich voran.

 

Wachgeküsst aber wurde die bundesrepublikanische Politik von dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, der 2017 vor Studierenden in Burkina Faso ankündigte, binnen fünf Jahren die Voraussetzungen für die Rückgabe des afrikanischen Sammlungsguts zu schaffen – und somit den Grundstein für die gegenwärtige Debatte um Restitutionen legte. Sicherlich hat sich auch das Humboldt Forum, dessen inhaltliche Gestaltung sowie der damit verbundene Umzug der außereuropäischen Sammlungen von der Peripherie ins Zentrum Berlins als Katalysator dieser Debatte erwiesen. Doch ohne Macrons Impuls hätte es wohl an entscheidender Strahlkraft in der Frage um Provenienzforschung und Restitution gefehlt. Diese Strahlkraft entsteht entscheidend durch die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und den Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr, die – wie Sarr selbst bemerkt – zu einem „richtigen Hype in der Restitutionsproblematik“ beigetragen haben. Im Auftrag Macrons erstellten Savoy und Sarr einen „Masterplan“, der die Rahmenbedingungen für die avisierte Rückgabe des afrikanischen Kulturguts aufführt und dabei nicht weniger als eine „neue Ethik der Beziehungen“ zwischen europäischen und afrikanischen Gesellschaften fordert.

 

Und tatsächlich: In der Bundesrepublik ist neben dem zentralen und unabschließbaren Gedenken an die Schoah jetzt ein Gelegenheitsfenster aufgestoßen worden, in dem die Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner massiven Konsequenzen angegangen werden kann. Denn die Restitutionsdebatte greift viel tiefer als um Fragen der materiellen oder rechtlichen Rückgabe von Kulturgütern; vielmehr kann sie über den zentralen Aspekt des „Unrechtskontexts“, unter dem Kulturgüter einst in Besitz genommen wurden, den Weg bereiten für die längst überfällige konsequente und breite Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen.

 

Die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes muss systematisch angegangen werden und bedarf der Einbeziehung unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ebenen. Dies bedeutet nicht nur eine Überprüfung der bisherigen Restitutionspraxis und Ausstattung der Provenienzforschung in Bund und Ländern. Dringend notwendig sind vielmehr eine grundlegende Erweiterung der deutschen Erinnerungskultur und ihrer Narrative sowie die Einbettung in den europäischen bzw. globalen Kontext der Kolonialisierung und des Imperialismus. Hierfür ist es notwendig, dass sich die Verantwortlichen des Humboldt Forums über den – wie Jürgen Zimmerer es bezeichnete – „kolonialen Kern“ des zurzeit bedeutendsten Kulturprojekts in Deutschland bewusst werden.

 

Diesen „kolonialen Kern“ anzuerkennen, heißt eben auch, sich die noch immer bestehenden Machtungleichgewichte zwischen ehemals Kolonisierten und ehemaligen Kolonisatoren bewusst zu machen. Demut und Diskurs mit den Nachfahren der Kolonisierten sind daher die zentralen Motive, die unser Handeln leiten sollten. Aus diesem Grunde kritisiere ich auch die von Hermann Parzinger und einer Initiativgruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ins Spiel gebrachte Idee eines „Raumes der Stille, der Besinnung“ im Humboldt Forum. Diese Idee eines Gedenkorts an die Opfer der deutschen Kolonialverbrechen kommt so nonchalant daher, als hätte es die Proteste am Humboldt Forum durch die diasporischen Communities sowie die große postmigrantische Szene der Republik gar nicht gegeben. Ebenfalls führt Jürgen Zimmerer völlig zu Recht an, dass durch einen Gedenkort im Humboldt Forum die Debatte um koloniale Beutekunst mit der allgemeinen deutschen Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Verbrechen – darunter der erste Völkermord im 20. Jahrhundert im heutigen Namibia – vermengt würden und „in eine Aufmerksamkeitskonkurrenz“ träten. Die Verantwortlichen des Humboldt Forums sind selbstverständlich in kuratorischen Fragen frei. Sie wären allerdings gut darin beraten, den avisierten „Dialog der Kulturen“ nicht nur zu proklamieren, sondern umzusetzen.

 

Zum Zwecke der Aufarbeitung des kolonialen Erbes plädiere ich daher für eine zentrale und sichtbare Stätte des Erinnerns und Lernens – unabhängig vom Humboldt Forum – in Berlin, dem politischen Zentrum des deutschen Kolonialismus und dem Ort der berüchtigten Berliner Afrika-Konferenz von 1884 bis 1885. Diese Erinnerungs- und Lernstätte soll zur Erinnerung an die deutsche und europäische Kolonialherrschaft, speziell in Afrika, und der damit verbundenen Verbrechen und Opfer dienen, die Thematik des kolonialen Erbes und des antikolonialen Widerstandes in ihren unterschiedlichen Facetten angemessen aufarbeiten und diese Epoche multiperspektivisch beleuchten. Eine Erinnerungsstätte hat auch das Ziel, die Versöhnung und die Entwicklung gemeinsamer Zukunftsperspektiven zu unterstützen und somit erste Schritte zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur zwischen Deutschland und den Menschen in den Nachfolgestaaten der vom Deutschen Kaiserreich beanspruchten Kolonien zu etablieren. Nicht zuletzt kann die Entwicklung eines solchen Orts des Erinnerns und Lernens dazu beitragen, die Debatte um die Aufarbeitung der Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Verbrechen in der breiten Gesellschaft sowie der kulturellen und politischen Bildung zu verankern. In einer offenen Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus kann die oft formelhafte Rede vom transkulturellen Dialog endlich mit Leben gefüllt werden.

 

Auf das Humboldt Forum kommt indes die zentrale Herausforderung der inhaltlichen Dekolonialisierung zu. Die Verantwortlichen sind vor die große Aufgabe gestellt, dass der Wiederaufbau des Stadtschlosses eben nicht mit einer Idealisierung der Herrschaftsmechanismen des 19. Jahrhunderts einhergeht und Geschichten von Rassismus und tradierter Ungleichwertigkeit reproduziert werden. Sie sollten alles daran setzen, dass wir aus der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft lernen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

Kirsten Kappert-Gonther
Kirsten Kappert-Gonther, MdB ist stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Deutschen Bundestag.
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