Ein Symptom des Unwillens

Am 13. April dieses Jahres hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages in einem überraschenden Beschluss die Bundesregierung aufgefordert, das Bauvorhaben eines Freiheits- und Einheitsdenkmals vor dem künftigen Humboldtforum in Berlin „nicht weiter zu verfolgen“. Ich will mich mit dieser Entscheidung nicht zufrieden geben. Denn es geht um etwas Wichtigeres als die – sehr zu bezweifelnden Mehrkosten – von vier Millionen Euro, die als Begründung für den Beschluss herhalten mussten: Nach 12-jähriger öffentlicher Debatte einer zivilgesellschaftlichen Initiative für ein Denkmal zur Erinnerung an die friedliche Revolution 1989 und die deutsche Vereinigung 1990, nach zwei klaren Bundestagsentscheidungen dafür, nach zwei Wettbewerben, nach weitgehenden Planungsarbeiten wird das mittlerweile baureife Projekt im Handstreich – nämlich ohne Debatte im zuständigen Fachausschuss, ohne neue Plenardebatte – im Haushaltsausschuss gekippt. Das ist ein für das deutsche Parlament blamabler Vorgang. Inzwischen hat Bundestagspräsident Lammert – an die „Kleiderordnung“ erinnernd – die Fraktionen aufgefordert, sich mit diesem Vorgang und mit dem Projekt erneut zu befassen.

 

Das allerdings halte ich für unbedingt notwendig. Denn ich empfinde die Entscheidung der Haushälter als ein Symptom des Unwillens und der Unfähigkeit von uns Deutschen, sich selbstbewusst, ja vielleicht gar mit Stolz an die eigene Geschichte zu erinnern, uns ein glückliches Ereignis unserer Geschichte in einem Denkmal zu vergegenwärtigen. Genau dies aber war die Intention der Initiatoren des Denkmalprojekts und dem folgend der beiden Bundestagsbeschlüsse: An die Friedliche Revolution 1989/90 zu erinnern, ein Denkmal unseres historischen Glücks zu errichten – und zwar in der Überzeugung, dass auch wir Deutschen Ermunterung und Orientierung vertragen und gewinnen könnten durch die Erinnerung an den Erfolg einer Freiheitsrevolution, welche die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas ermöglichte. Eine Erinnerung, die Widersprüche, Scheitern, Schandtaten, Verbrechen der deutschen Geschichte gewiss nicht verdrängen und nicht vergessen machen soll. Aber auch wir Deutschen haben eine Freiheitsgeschichte, zu deren schönsten Kapiteln das „Jahr der Wunder“ 1989/90 gehört!

 

Mit dem Entwurf der Waage, so meine Überzeugung, ist eine durchaus moderne Form gefunden worden, die für viele gewöhnungsbedürftig sein mag und daher auch angreifbar ist, gerade auch weil der Entwurf etwas Leichtes ausstrahlt. Es soll ja auch kein Mahnmal sein, sondern ein zeitgemäßes Denkmal, das an einen Moment erinnert, in dem Geschichte gelingt: Eine Revolution in Deutschland, die nicht scheitert, sondern ohne Blutvergießen Demokratie, Freiheit und Einheit für alle Deutschen bringt. Die Waage will in einer spielerischen, aber doch nicht unernsten Weise etwas Grundlegendes dieser friedlichen Revolution verdeutlichen: „Bürger in Bewegung“ können die Waage neigen, wenn sie sich verständigen, wohin sie wollen. Der Betrachter soll nicht in demütigem Abstand vor dem Denkmal verharren, sondern er soll es betreten, er soll mitwirken. Ich halte diese Idee für zeitgemäßer und moderner, als etwa eine Figur, zu der man aufschauen soll, oder eine abstrakte Form, die ständig neuer Erläuterung bedürfte.

 

Nun wird jedes Wettbewerbsergebnis, jeder Denkmalsentwurf umstritten sein. Geschmacksurteile sind erlaubt und unvermeidlich. Schon die Bezeichnung des zur Realisierung ausgewählten Siegerentwurfs als „Wippe“ aber war ein Geschmacksurteil von denunziatorischer Qualität. Erinnern wir uns: Auch das Holocaustdenkmal hatte ursprünglich heftige Gegner und ist inzwischen nahezu unumstritten.

 

Dass es Streit gibt, liegt gewiss auch an der intellektuellen und künstlerischen Herausforderung. Wir kennen Helden-, Kriegs-, Opfer- und Toten-Denkmäler, wir kennen mehr oder minder peinliche Nationaldenkmäler. An die deutsche Freiheitsgeschichte zu erinnern, ein Denkmal historischen Glücks zu schaffen, dafür aber gibt es in unserer Denkmalstradition kein Vorbild!

 

Um dieser Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen, wird auf das Brandenburger Tor verwiesen: Das sei schon das Freiheits- und Einheitsdenkmal, meint Kulturstaatsministerin Grütters. Welch‘ Geschichtsvergessenheit! Mit dem Brandenburger Tor, erbaut als Triumphbogen und als Stadttor, zum Berliner Tiergarten fungierend, bleibt die Erinnerung an die Machtergreifung Hitlers 1933, an die durch das Tor marschierenden SA-Einheiten verbunden. Und die Erinnerung daran, dass es in der Zeit des Kalten Krieges einsam im Niemandsland der Grenze stand – ein Symbol der deutschen Spaltung schlechthin, deshalb durchaus ein Symbol der Wiedervereinigung. Aber ein Denkmal unserer Freiheits- und Demokratiegeschichte? Welch‘ Missachtung der historischen Leistung, welche die Ostdeutschen mit ihrer friedlichen Revolution erbracht haben!

 

An diese soll erinnert werden – in Berlin und in Leipzig. Das Ringen um ein solches Denkmal ist nicht, wie Monika Grütters es sagt, ergebnislos, jedenfalls nicht für Berlin: Der preisgekrönte Entwurf ist zur Baureife entwickelt, die Baugenehmigung erteilt. Dieses Projekt in Berlin scheitern zu lassen, hilft Leipzig nicht. Im Gegenteil: Wenn’s in Berlin gelingt, werden die Aussicht und der Nachdruck für ein Denkmal in Leipzig umso größer.

 

Wir sollten uns also nicht mit dem Geschmacksurteil unserer lieben Haushaltspolitiker zufrieden geben! Auch nicht mit dessen zweifelhafter Begründung. Es geht vielmehr darum, wie dieses Land und dieses Volk mit dem glücklichsten Ereignis seiner jüngsten Geschichte umgeht! Die Debatte muss also wieder aufgenommen werden, der fachlich zuständige Kulturausschuss und das Plenum des Deutschen Bundestages müssen sich mit dieser Herausforderung und dem Entwurf ernsthaft und verantwortungsvoll befassen! Alles andere wäre beschämend.

 

Der Text ist zeurst in Politik & Kultur 06/2016 erschienen.

Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse ist Bundestagspräsident a. D., Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.
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