Der Große Krieg

Erfahrungen des Ersten Weltkrieges 1914 bis 1918

Kennzeichnend für diesen Krieg war vor allem der Einsatz immer neuer und schrecklicher Waffen und Geräte. Dies gilt nicht nur für das bereits im Burenkrieg und Russisch-Japanischen Krieg, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eingesetzte und zunehmend perfektionierte Maschinengewehr sowie für die immer größere ballistische Leistungen aufweisende Artillerie. Beide waren die größten Todbringer auf den Schlachtfeldern. Der „Große Krieg“ war der erste Krieg, in dem Panzer – wegen ihres ungetümen Aussehens damals Tanks genannt – eingesetzt waren, die 1918 zur kriegsentscheidenden Waffe werden sollten. Auch dem Flugzeug, das bereits mit Maschinengewehren bestückt war und als angriffstauglich galt, kam eine immer größere Bedeutung zu. Der Einsatz der neu entwickelten U-Boote bescherte zwar den Deutschen anfänglich einige Erfolge, aber ihre Wirkung wurde von der deutschen Heeresleitung weit überschätzt. So gelang es den U-Booten nicht, die von den Briten verhängte Seeblockade, mit der Deutschland von allen Einfuhren abgeschnitten war, dauerhaft zu durchbrechen. Durch den Gaskrieg, der wie nichts anderes die Soldaten mit Entsetzen erfüllte, veränderte sich ab 1915 die Kriegsszenerie erheblich, nicht zuletzt dadurch, dass die „Begasung“ der feindlichen Truppen dem Krieg psychologisch wie ideologisch eine vollständig neue Dimension gab.

 

Eine weitere Eigenschaft war die Tatsache, dass dieser Krieg bereits in Ansätzen umfassend, also „total“, war, wie dies schließlich auf den ihm nachfolgenden Zweiten Weltkrieg zutraf. Zu diesen, zugleich zukunftsträchtigen, Elementen eines „totalen Krieges“ zählten zum einen die in allen kriegführenden Nationen anzutreffende Mobilisierung sämtlicher Ressourcen sowie die Propagierung umfassender Kriegsziele zur Rechtfertigung der ungeheuren Kriegsanstrengungen. Eine weitere Kategorie war die Ausübung einer totalen Überwachung und Kontrolle der Kriegsgesellschaften. Das sogenannte Hindenburg-Programm von 1916 der Dritten Obersten Heeresleitung – quasi eine Militärdiktatur der Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff –, aber auch schon einige Maßnahmen der Regierung Lloyd George in Großbritannien lassen diese Absicht einer totalen Mobilisierung der Bevölkerungen bereits erkennen.

 

Charakteristisch für den Ersten Weltkrieg war aber vor allem die zunehmende Entgrenzung der Kriegführung durch eine weitgehende Missachtung des Kriegsvölkerrechts und die immer wieder festzustellende Aufhebung der Grenzen zwischen Militär und Zivilbevölkerung. Hierzu gehörte die Zerstörung der gegnerischen Infrastruktur, selbst ganzer Orte und Landschaften, also Strategien einer „verbrannten Erde“, wie sie etwa auf deutscher Seite im Frühjahr 1917 beim Rückzug von der Somme in die sogenannte Siegfried-Stellung praktiziert wurde. Entgrenzungen waren aber auch „ethnische Säuberungen“, wie sie beispielsweise von den Russen in Galizien, von den Österreichern in Serbien oder den Türken gegenüber der eigenen armenischen Bevölkerung ausgeübt wurden, ferner eine oftmals skandalöse und grausame Behandlung der Kriegsgefangenen, und zwar auf allen Seiten, innerhalb wie außerhalb der Lager. Acht bis neun Millionen Kriegsgefangene stellten zudem eine neue, bis dahin ungekannte Größenordnung dar. Aus zunächst improvisierten Unterbringungsorten wurden schon bald auf Dauer angelegte Lager. Auch der bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts existierende Begriff „Konzentrationslager“ erhielt im Ersten Weltkrieg eine neue Bedeutung.

 

Kennzeichnend für den Weltkrieg war nicht zuletzt die Technik einer Verteufelung des Gegners, die sich im und durch den Krieg entwickelte. Neu war vor allem das Phänomen der Propaganda als eines Instruments zur Verstärkung des Durchhaltewillens der eigenen Bevölkerung. Es war eine Propaganda, die hemmungslos medialisiert war, die bereits die Fotografie und den Film einsetzte und gegen Ende des Krieges Fliegerabwurfzettel millionenfach aus Flugzeugen herabregnen ließ. In den schrecklichsten Farben und in Massenauflagen von Druckwerken aller Art geriet der Gegner zum „Hunnen“, zum „Barbaren“, zu einem „Teufel“; diese Propaganda erzeugte gleichsam die Begleitmusik zur „Barbarisierung der Kriegführung“.

 

Der „Große Krieg“, die ungeheure Masse der Opfer und der Entbehrungen sowie die zerstörten Existenzen und Lebensentwürfe verlangten nach einer permanenten „Sinngebung“ – dieses Kunstwort wurde in den 1920er Jahren in Deutschland zu einem zentralen Begriff. Doch in dem Maße, wie diese Sinngebung den Verlierern, aber auch Gewinnern wie etwa Italien, nach 1918 nicht gelang, blieb der Krieg in die jeweilige Gesellschaft eingebrannt. Die Erfahrung des Weltkrieges verlängerte sich in der Nachkriegszeit als „Krieg in den Köpfen“. Hieraus entstand ein diffuser Hass, den die Philosophin Hannah Arendt in ihren wegweisenden Reflexionen über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, veröffentlicht 1955, zu Recht als formgebend erkannt hat: Er „drang in alle Poren des täglichen Lebens und konnte sich nach allen Richtungen verbreiten, konnte die phantastischsten, unvorhersehbarsten Formen annehmen; nichts blieb vor ihm geschützt, und es gab keine Sache in der Welt, bei der man sicher sein konnte, daß der Hass sich nicht plötzlich gerade auf sie konzentrieren würde“.

Gerhard Hirschfeld
Gerhard Hirschfeld ist Professor am Historischen Institut der Universität Stuttgart sowie Gastprofessor an der Universität Wuhan/China
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