Butter statt Kanonen

Der deutsche Film im Ersten Weltkrieg

Wie gewinnt man das Herz seiner Auserwählten? Im Ersten Weltkrieg, als in den deutschen Großstädten die hungernden Menschen auf die Straße gingen und streikten, gab es darauf eine einfache Antwort: mit einem Viertelpfund Butter. So lautet die Pointe der Filmkomödie „Das schönste Geschenk“, die im November 1916 ins Kino kam. Die Hauptrolle des nicht übermäßig hübschen, aber gewitzten Jünglings mit der Butter spielt Ernst Lubitsch, der damals einer der populärsten Komiker war und Komödien im jüdischen Milieu drehte.

 

Überhaupt erlebte die deutsche Filmindustrie in den Jahren des Weltkrieges einen enormen Boom. Während an der Front täglich Tausende verwundet und getötet werden, bringen Komödiantinnen und Komödianten, Stars und Sternchen die Menschen im Kino zum Lachen und Weinen und verschaffen ihnen so ein paar heitere Stunden. Lubitsch nutzte diese Jahre, um sich auch als Regisseur zu etablieren und den vielbeschworenen „Lubitsch Touch“ zu entwickeln. Als der Krieg zu Ende war, begann er, Filme für den Weltmarkt zu produzieren, weckte das Interesse der Amerikaner und machte wenig später Karriere in Hollywood.

 

Wie so viele andere Filme auch, ist „Das schönste Geschenk“ nicht überliefert. Dass wir heute dennoch zahlreiche historische Filme aus der Kriegszeit ohne bürokratische Hürden ansehen und eingehend studieren können, ist einem Gemeinschaftsprojekt europäischer Archive zu verdanken, durch das Materialien aus eigenen Beständen digitalisiert wurden. Neben Wochenschauen, dokumentarischen Filmen und behördlichen Propagandafilmen sind nun auch Melodramen, Krimis und Komödien aus den unterschiedlichsten Ländern auf dem Online-Portal „European Film Gateway“ (EFG 1914) frei zugänglich.

 

Während die deutsche Filmbranche zu Beginn des Krieges noch eine lange Dürrezeit erwartete und der gesamte Unterhaltungssektor aufgrund von Zensurmaßnahmen, Verboten und Einberufungen schrumpfte, profitierte die Film- und Kinobranche bald von dem Niedergang von Konkurrenzunternehmen wie Theatern, Varietébühnen und Rummelplätzen, die allesamt mehr Personal als die Kinos benötigten. Neue Publikumsschichten wendeten sich dem Kino zu. Außerdem veränderte sich der Absatzmarkt grundlegend durch die weitgehende Abschirmung von auswärtiger Konkurrenz, die Errichtung von Feldkinos und die starke Expansion in den besetzten Gebieten. Bislang stand die deutsche Filmindustrie deutlich hinter dem Nachbarland Frankreich zurück. Nun begann sie schnell zu wachsen.

 

Nicht nur kommerziell bedeutete der Krieg für das deutsche Kino eine Zeit des Wachstums. Auch das öffentliche Ansehen des Kinos wandelte sich. In der Vorkriegszeit wurde es vor allem als billige Form der Unterhaltung wahrgenommen und hatte in weiten Kreisen des Bürgertums einen schlechten Ruf. Schon bald nach Kriegsbeginn trat zur Unterhaltungsfunktion von Filmen die Informationsvermittlung in den Wochenschauen hinzu. Zumindest für Momente sollten die dokumentarischen Bilder der deutschen und österreichischen Truppen auf der Leinwand die räumliche Trennung zwischen Front und Heimat überwinden. Das Kino stellte so eine Verbindung und eine Nähe her, die vorher unmöglich erschien: Während die Ehemänner, Söhne und Freunde in fernen Ländern Krieg führten, konnten die Filmbilder in den Wochenschauen den Daheimgebliebenen zumindest eine vage Vorstellung vom Aufenthaltsort ihrer Angehörigen geben. Die in den Zeitungen genannten Einsatzorte erschienen dadurch etwas weniger fremd. Die Fähigkeit der Filme, Raum und Zeit zu überbrücken, brachte Publikumskreise in die Kinos, die ihm zuvor ablehnend gegenübergestanden hatten. Der Krieg beschleunigte so die Verbürgerlichung des Filmgeschmacks und des Kinobesuchs.

 

Große Kapitalmengen flossen im Krieg in den aufstrebenden Film- und Kinosektor, Interessenverbände wurden gegründet und der schlechte Ruf einer Branche mit vielen kurzlebigen und spekulativen Unternehmungen bekämpft. Die Kapitalzufuhr beschleunigte zudem eine schon früher einsetzende Entwicklung: Lange Spielfilme verdrängten die oft aus vielen Kurzfilmen zusammengesetzten Programme. Die Produktionen wurden kostspieliger und setzen noch stärker auf noble Ausstattungen und extravagante Stars.

 

Trotz seiner wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung hegten die deutschen Militärbehörden lange Zeit Bedenken gegen das Kino. Aus Angst vor Spionage und mangelndem Verständnis für die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung unterband der Generalstab die Versuche von Kameraleuten, Aufnahmen in unmittelbarer Frontnähe zu machen. Zwar erhielten die Firmen Messter und Eiko Drehgenehmigungen und versorgten ab 1914 die Kinos in Deutschland und im neutralen Ausland sowie die bald entstehenden Feldkinos in Frontnähe mit Filmmaterial. Doch die Bilder ihrer Kriegswochenschauen wurden vom Militär zensiert und verloren rasch ihren Neuigkeitswert.

 

Publikum und Kinobetreiber begannen, über die uninteressanten, wenig spektakulären Aufnahmen zu klagen. Die Lichtbild-Bühne urteilte bereits am 6. Februar 1915: „Es gibt keine aktuelle Berichterstattung, die den Ereignissen auf dem Fuße folgt. Die Kriegswochen(schauen) sind eine wahllose Zusammenstellung von Genrebildern und Episoden, die heute und auch in den nächsten Wochen gezeigt werden können, ohne an Aktualitätswert zu verlieren. (…) Das Publikum hat das Interesse für derartige Genrebilder schon längst verloren.“

Erst die Berichte über die Erfolge der feindlichen Filmpropaganda führen dazu, dass die militärische Führung ihre Haltung zum Kino änderte. Am 30. Januar 1917 wurde das finanziell gut ausgestattete Bild- und Filmamt (Bufa) gegründet, das die „amtlich militärische Berichterstattung“ im In- und Ausland, die Einrichtung von Feldkinos, Entsendung von Kameraleuten, Zuteilung von Filmmaterial und die Zensur koordinieren sollte. Beabsichtigt wurde damit eine Verbesserung der psychologischen Kriegsführung und eine positivere Außendarstellung Deutschlands. Unter dem Titel „Die Mobilmachung des Bildes“ resümierte die Vossische Zeitung am 28. April 1917 diese Entwicklung: „Man hat in Deutschland lange geglaubt, diesen Krieg allein mit der Stärke des Schwertes und der Reinheit der Sache entscheiden zu können. Erst ganz allmählich setzte sich die Einsicht durch, daß in diesem Kampf auf Leben und Tod alle Waffen, auch die geistigen und moralischen, gebraucht werden müssen, und erst nach zwei Kriegsjahren begannen die ersten amtlichen Versuche, die wichtigsten dieser Waffen, Bild und Film, in den Kreis der Kriegsführung zu ziehen.“

 

Die Frage nach der Massenwirksamkeit von Filmpropaganda beschäftigte nicht nur die Mitarbeiter des Bufa. In der Fachzeitung „Der Film“ vom 29. Dezember 1917 stellte ein Kritiker fest, dass ein erfolgreicher Propagandafilm einem „Wolf im Schafskleide“ gleichen müsse; das Publikum müsse emotional gepackt werden und dürfe die Propagandaabsichten nicht erkennen. Statt nicht-fiktionaler Filme seien deshalb „Tendenzdramen“ vonnöten. Ähnliche Überlegungen stellte auch das Bufa selbst an: Eine geheime Denkschrift mit dem Titel „Der Propagandafilm und seine Bedingungen, Ziele und Wege“ forderte im Oktober 1917, dass Propagandafilme besonders „latente Instinkte“ und solche „günstigen Momente“ ansprechen müssten, die „noch im Unterbewußtsein der Zuschauer schlummern“.

 

Das Bufa erreichte seine Ziele nicht, weil zwischen den psychologischen Erkenntnissen seiner Mitarbeiter und den technisch-ästhetischen Möglichkeiten der Umsetzung zu große Widersprüche klafften. Zumindest in den größeren Städten, in denen das Publikum zwischen verschiedenen Programmen wählen konnte, erwiesen sich die großenteils nicht-fiktionalen militärischen Filme als ausgesprochen unattraktiv. Da das Bufa nicht selbst über Kinos verfügte, verschwanden seine Filme recht bald aus dem Programm. In einer Zeit, in der der Krieg und seine Folgen auch das Leben der Zivilbevölkerung unmittelbar beherrschten, wollte man im Kino lieber über Lubitsch lachen, als sich belehren zu lassen.

 

Angesichts der mangelnden Popularität der Bufa-Filme einerseits und der weiter steigenden Unzufriedenheit mit der militärischen Lage und Lebensmittelknappheit an der Front wie in Deutschland andererseits gingen Staat und Militär einen Schritt weiter: Am 18. Dezember 1917 wurde die Universum-Film AG (Ufa) gegründet und mit erheblichem Kapital ausgestattet, ohne dass die Öffentlichkeit vom militärischen und regierungsamtlichen Hintergrund der Angelegenheit erfuhr. Die Ufa kaufte Produktions-, Verleih- und Kinobetriebe auf und schuf so den ersten vertikal in allen Bereichen der Filmwirtschaft aktiven, kommerziell ausgerichteten Konzern.

 

Was die zur Ufa gehörenden Firmen 1918 und die dort angestellten Regisseure, Drehbuchautoren und Schauspieler produzierten, passte allerdings kaum ins Kalkül des Militärs: Die Spielfilme waren allenfalls als abendliche Ablenkung vom Kriegsalltag und als Narkotikum mit zeitlich begrenzter Wirkung geeignet.

 

Die Leitung der Ufa zielte 1917/18 auf die Etablierung ihres Unternehmens auf dem umkämpften Unterhaltungsmarkt und war damit ihrer Zeit voraus. In der Vorstellung ihrer Finanziers sollte die Ufa als Botschafterin der deutschen Kultur das Ausland beeindrucken, ohne ihre Regierungsnähe erkennen zu lassen. Vor Kriegsende verschlang der riesige Konzern aber nur Unmengen von Geld. Wie im Fall des Bufa wurden die propagandistischen Aktivitäten der Ufa und mit ihr die Aktivitäten der staatlich gelenkten deutschen Filmpropaganda insgesamt von zeitgenössischen Beobachtern meist als Misserfolg gewertet. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass die Ufa 1917/18 zugleich das Fundament für eine Zukunft des deutschen Filmschaffens nach dem Krieg legte, deren prominentester Vertreter Ernst Lubitsch wurde. Die Ufa-Filme wurden zum Aushängeschild der weltoffenen Weimarer Kultur und Lubitschs Filme bildeten die Vorhut. Den gesellschaftlichen Außenseitern und ihrer Sehnsucht nach Teilhabe gehörte seine Sympathie, die alten Autoritäten holte er vom Sockel und machte rebellische Frauen zu Stars.

Philipp Stiasny
Philipp Stiasny ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Filmmuseum Potsdam und an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf.
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