Wie gestalten wir die Vergangenheit heute?

Denkmäler als Orte der Teilhabe und Macht

Am Abend des 31. Mai 2020 versammelte sich eine Menschenmenge im Linn Park in Birmingham, Alabama, um gegen die Ermordung von George Floyd und gegen strukturellen Rassismus zu demonstrieren. Umgeben von städtischen Gebäuden wie dem Rathaus und dem Jefferson County Courthouse, versuchte eine Gruppe das „Confederate Soldiers and Sailors Monument“, einen über hundert Jahre alten Gedenkobelisken, zu stürzen.
Das 1905 errichtete Denkmal entstand mit Unterstützung der United Daughters of the Confederacy, einer Bürgerorganisation, die gegründet wurde, um das Andenken an die „Lost Cause“ der im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten zu bewahren und gleichzeitig die Institution der Sklaverei zu romantisieren und schönzufärben. Es gehörte zu den Dutzenden von Statuen, die befördert durch die „United Daughters of the Confederacy“, dazu beitrugen, alltägliche Formen des Rassismus in öffentliche Räume einzuschreiben.

 

Der Obelisk in Birmingham war bereits mehrmals ein Ort, an dem Symbole und Ungerechtigkeit in Verbindung gebracht wurden. Er überdauerte den brutalen Rassismus der Jim-Crow-Ära, die gesetzlich verankerte Rassentrennung und die anhaltende institutionelle Diskriminierung. 2017 verkleidete die Stadt den Sockel mit Holz als Reaktion auf und unter Missachtung eines bundesstaatlich verabschiedeten Gesetzes, das den Kommunen einen selbstbestimmten Umgang mit Konföderierten-Denkmälern untersagte. Dieselbe gesetzliche Situation hatte auch Kommunalverwaltungen in anderen Südstaaten wie North Carolina und Virginia davon abgehalten, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

 

An jenem Abend im Mai zerstörten die Menschen in Birmingham zunächst die Holzverkleidung, besprühten dann den Sockel und machten sich daran, das Denkmal mit Seilen zu stürzen. Dabei ließen sie sich teilweise von einer Reihe Tweets der Archäologin Sarah Parcak von der Universität Alabama anleiten, die am Vortag ein Tutorial für den Sturz von Obelisken veröffentlicht hatte. Zu Beginn der Aktion bahnte sich der Bürgermeister der Stadt, Randall Woodfin, mit einem Megafon den Weg durch die Menge. Berichten zufolge beschwor er die Menschen, die auf den Obelisken geklettert waren, zu warten. „Gestatten Sie mir, die Sache für Sie zu Ende zu bringen“, rief er. Einen Tag darauf entfernten Bauarbeiter mit einem Kran das Konföderierten-Denkmal.

 

Innerhalb von Tagen griffen in Dutzenden anderen Städten, inmitten der Proteste und des Aufruhrs, Bewohner und Stadtverantwortliche in den Status quo ein. In über hundert Städten wurden Monumente demontiert, die dem Vermächtnis von Sklaverei und Unterwerfung Hochachtung zollten. Dazu gehörten Konföderierten-Symbole innerhalb und außerhalb der Südstaaten sowie andere rassistische und umstrittene Symbole.

 

In einigen Fällen stürzten Demonstrierende die Statuen. Doch meistens handelten die Kommunalverwaltungen. Sie reagierten auf die immer lauter werdenden Forderungen nach Gerechtigkeit mit Verordnungen, Ausschüssen oder Aufrufen zur öffentlichen Sicherheit. Die öffentliche Meinung änderte sich und viele erkannten an, dass solche Statuen nicht neutral sind und nicht ignoriert werden können – sie richten aktiv Schaden an und sind Symbole eines breiteren Unrechtssystems. An ihrer statt müssen neue Narrative für den öffentlichen Raum erdacht werden, die auf Demokratie und Gleichheit ausgerichtet sind.

 

Das Wort „topple“ ist zum Synonym dieses historischen Moments in Nordamerika geworden. Definiert als „aus dem Gleichgewicht und zu Fall bringen“, fängt es eine Stimmung und einen Anstoß zum Wandel ein, der über reine Reformen oder symbolische Gesten hinausgeht. Obgleich es zur Bezeichnung von Umstürzen verwendet wird, die von Personen aus der Zivilgesellschaft herbeigeführt werden, bezeichnet es auch einen Status quo, der dem Verlangen nach einfacher Überprüfung und einer umfassenderen Darstellung historischer Wahrheiten nicht standhalten kann.

 

Bilder zu sehen von Statuen, die einst Sklavenhaltern, Kolonisatoren und Verrätern gewidmet waren und nun zu Boden gerissen – oder in heimischen Gewässern versenkt – werden, hatte etwas Erhabenes an sich. Diese Stürze sind Auslöser für eine langersehnte Aufarbeitung. Außerhalb der USA und in ganz Europa hallten die Rufe nach einer Entkolonialisierung des öffentlichen Raumes wider und reichten von beispiellosen Denkmalstürzen wie der Edward-Colston-Statue in Bristol bis zu Aktionen gegen herabwürdigende koloniale Straßennamen in Berlin und anderen Städten.

 

Warum es möglich war, dass diese Symbole Jahrzehnte überdauerten, ist eine Frage, die der bitteren Geschichte von anhaltender Kontrolle, Unterwerfung und gezielter Manipulation Rechnung trägt, die in den normativen Modi der öffentlichen Geschichte, Kunst und des Städtebaus verankert sind.

 

Obwohl sich dieser Moment erdbebengleich anfühlt, lassen sich die Erschütterungen dieser Denkmalsstürze mindestens ein Jahrzehnt, wenn nicht noch weiter, zu den vielen lokalen Aktionen wie „Take ’Em Down“ in den USA und der #RhodesMustFall-Kampagne in Südafrika zurückverfolgen. Wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass die Denkmaldebatte nicht neu ist. Jedes Mal, wenn man eine Schlagzeile liest, die einen Denkmalssturz verkündet, gehen ihr Jahre der Organisation, der Träume und des Widerstands von Aktivistinnen und Künstlern voraus, die oft nicht genügend gewürdigt und nur lückenhaft dokumentiert werden. Erinnerungsarbeiterinnen und -arbeiter haben über Ländergrenzen hinweg die Aufmerksamkeit auf die beschämenden Verbindungen zwischen Symbolen und Systemen gelenkt.

 

Früher dachte man, Denkmäler seien dauerhaft, universal, unberührbar und über uns erhaben. Statuen wirkten zeitlos, trotz der Tatsache, dass sie errichtet werden, fallen und sich über die Jahre hinweg verändern. Als Machtsymbole stehen sie oft stellvertretend für die Geschichte und verdrängen komplexere Narrative, unversöhnliches Streben und hintergründige Ansprüche auf Landschaften. In Wirklichkeit ist kein Monument von Dauer – es bedarf der Pflege und einer bestimmten Gesinnung für den Erhalt.

 

Die alte Sicht auf Denkmäler wurde von einer aufstrebenden Generation von Künstlerinnen und Aktivisten umgekrempelt. Sie unterliefen die obligatorische Ehrerbietung und verstanden Monumente als Orte des Kampfes. Für sie ist die Geschichte nicht unverrückbar, sondern formbar, kollektiv und nicht festgeschrieben. Eine freiere Welt, von der wir wissen, dass sie möglich ist, ist nicht mehr aufzuhalten. Es hat keinen Zweck, an Denkmälern festzuhalten, die auf einen Status quo zurückblicken, der den strukturellen Rassismus bestärkt.

 

Während eines Großteils des letzten Jahrzehnts hat Monument Lab eine forschende und vermittelnde Rolle gespielt. Wir kultivieren und ermöglichen einen kritischen Diskurs über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Denkmälern zwischen Künstlerinnen, Aktivisten, Studierenden sowie Kommunalverwaltungen und Landesregierungen, Museen und Kultureinrichtungen. Durch Ausstellungen und öffentliche Projekte haben wir Hunderttausende Menschen persönlich und Millionen Menschen online dazu angeregt, Denkmäler von heute neu zu denken.

 

Monument Lab ist ein sozial engagiertes Kunstprojekt in Form eines Bürger-ateliers, das gemeinschaftliche Ansätze zur Wiederentdeckung und Neuinterpretation der Geschichte erprobt. Das Leitmotiv besteht darin, das Erbe der Vergangenheit zu hinterfragen – die Geschichten, die auf ewig Bestand zu haben scheinen, aber tatsächlich nicht festgeschrieben sind. Dadurch werden neue Narrative zutage gefördert, die vergessen, ignoriert oder unterdrückt wurden.

 

Als Mitbegründer wurde ich von meiner jahrelangen Forschung in Deutschland inspiriert. Über die Jahre hat mich der von künstlerischer und historischer Forschung angeregte Dialog mit Kolleginnen und Kollegin in Deutschland und darüber hinaus inspiriert. Das ist einer der Gründe, warum sich Monument Lab über die Partnerschaft mit dem Goethe-Institut und der Bundeszentrale für politische Bildung im Projekt „Gestaltung der Vergangenheit“ freut, einem Projekt, das für den länderübergreifenden Austausch, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen Künstlerinnen und Aktivisten steht, die neue Wege in der Erinnerungskultur gehen wollen.

 

Mit einer Reihe engagierter Ausstellungen, Programme und Publikationen zeigt „Gestaltung der Vergangenheit“ innovative Modelle auf, mit denen wir im öffentlichen Raum der Vergangenheit gedenken und die Demokratie stärken können. Das Projekt stellt die Arbeit der Stipendiatinnen und Stipendiaten des Monument Lab vor, einer Gruppe unabhängiger Erinnerungsarbeiterinnen und -arbeiter aus ganz Nordamerika und Deutschland , die andauerndes Unrecht im Denkmalbau thematisieren und neue kreative Ansätze an die Kunst im öffentlichen Raum und die Geschichte in ihren eigenen Städten herantragen.

 

In diesem Sommer, der von Aufarbeitung und Reflexion geprägt war, haben wir am Monument Lab versucht, aus den jüngsten Schlüsselereignissen der Erinnerungskultur zu lernen und gleichzeitig Kraft und eine klare Vision aus unserer jahrelangen Arbeit zu gewinnen.

 

Nichts in der Kunst im öffentlichen Raum ist von Dauer, und es gibt keine neutralen öffentlichen Orte. Stattdessen können wir gemeinsam daran arbeiten, Symbole und Rechtssysteme miteinander zu verbinden, um unsere Geschichte umfassender aufzuarbeiten und gleichzeitig die nächste Generation von Monumenten aus der Taufe zu heben.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

 


 

Mehr unter: monumentlab.com

 

GESTALTUNG DER   VERGANGENHEIT
Im Sommer 2019 lud das Goethe-Institut eine Gruppe nordamerikanischer Künstlerinnen und Aktivisten zu einer Recherchereise nach Berlin ein, um erinnerungskulturellen Fragen im öffentlichen Raum nachzuspüren und mit lokalen Akteuren zu diskutieren.
Aus diesen Begegnungen entstand in Kooperation mit dem Künstlerkollektiv Monument Lab Philadelphia und der Bundeszentrale für politische Bildung das Projekt „Gestaltung der Vergangenheit“, das aktuelle Diskurse im Umgang mit Denkmälern und Vergangenheitsnarrativen beleuchtet. Am 8.-9. Oktober diskutieren führende Stimmen Erinnerungskultur im globalen Kontext unter goethe.de/shapingthepast

Paul M. Farber
Paul M. Farber ist künstlerischer Leiter und Mitbegründer des Monument Lab.
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